Traglastverhalten von Stahlbetontübbingfugen

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Link to the English version: Load-bearing behaviour of reinforced concrete tunnel lining joints


Es mag überraschen, dass sich der Lehrstuhl für Massiv- und Brückenbau auch mit Tunnelbau befasst. Allerdings werden beim Vortrieb von Tunnel mittels Tunnelbohrmaschine (TBM) häufig Tunnelauskleidungssegmente, die sogenannten Tübbinge, aus Betonfertigteilen verwendet. Aufgrund der grossen Anzahl der benötigten Segmente kann dessen Optimierung einen grossen Einfluss auf das Tunnelbauprojekt haben. Schlankere Tübbinge können die Kosten und die Umweltauswirkungen erheblich reduzieren, da eine dünnere Auskleidung nicht nur weniger Baumaterial verbraucht, sondern vor allem auch den erforderlichen Aushub verringert.

Die Tübbinge übernehmen eine Vielzahl von Aufgaben: Sie nehmen den Gebirgsdruck auf, dichten den Tunnel ab, dienen als Befestigungselemente von Ausrüstungsteilen und übertragen die Vortriebs- und Steuerungskräfte der TBM. Die entsprechenden Kräfte müssen bei der Bemessung der Tübbinge berücksichtigt werden, wobei den Fugen eine Schlüsselrolle zukommt.

Abbildung 1: Tunnelbau mittels Schild-TBM und den wichtigsten Details. Adaptiert von Arnau und Molins.

Die Längsfugen zwischen den Segmenten (siehe Abbildung 1) übertragen bei einschaligen Tunnel die Lasten während des Baus und der gesamten Lebensdauer. Im druckhaften und quellfähigen Gebirge treten typischerweise grosse Ringdruckkräfte auf. Die Kontaktfläche in der Längsfuge ist meistens im Vergleich zum Normalquerschnitt des Tübbings reduziert. Dies erleichtert den Tübbingeinbau, vermeidet Abplatzungen und ermöglicht das Anbringen von Dichtungen. Aufgrund der verringerten Kontaktfläche resultieren im Bereich der Lasteinleitung höhere Druckspannungen als im Normalquerschnitt des Tübbings und es treten Spaltzugkräfte aufgrund der Lastausbreitung auf. Die Tübbingstärke von Tunnel mit grossen Ringdruckkräften wird häufig durch die Gestaltung der Längsfugen bestimmt.

Im Schildvortrieb wirken die über den Umfang verteilten Einzellasten der TBM-Vortriebszylinder auf den zuletzt eingebauten Tübbingring und werden über die Ringfugen auf die zuvor eingebauten Tübbingringe übertragen (siehe Abbildung 1). Aus dieser Einwirkung resultieren unter anderem Zugsbeanspruchungen, aufgrund der Lastausbreitung und Einbautoleranzen, welche häufig massgebend sind für die Bemessung der Bewehrung zur Begrenzung der Rissbreiten.

Ein vom ASTRA und BAV unterstütztes Forschungsprojekt am Lehrstuhl für Massiv- und Brückenbau untersucht die Längs- und Ringfugen von Tunneltübbingen. Das Ziel des Projekts ist es, verbesserte Bemessungsansätze zur Dimensionierung der Fugen zu entwickeln. Dieser Blogbeitrag fokussiert auf die Längsfugen und präsentiert die Ergebnisse einer experimentellen Versuchskampagne.

Der Lastabtrag in den Längsfugen stellt ein Problem der Teilflächenpressung mit überwiegend unidirektionaler Lastausbreitung dar und kann als Streifenbelastung idealisiert werden. Bei der Streifenbelastung wird ein Bauteil über eine schmalere Breite als die Bauteilbreite und über eine wesentlich grössere Länge belastet. Die Last breitet sich aus, bis der gesamte Querschnitt homogen belastet wird. Aus umfangreichen Versuchsreihen ist bekannt, dass bei Teilflächenbelastung wesentlich höhere Kontaktpressungen als die einaxiale Betondruckfestigkeit auftreten können. Die meisten aktuellen Bemessungsansätze zur Teilflächenbelastung (z.B. SIA 262, Eurocode 2 oder fib Model Code 2010) basieren auf dem sogenannten Quadratwurzelansatz. Dabei wird die mittlere Tragfähigkeit der belasteten Fläche, ausgedrückt als Spannung qx,u, mit der einachsigen Druckfestigkeit fc und der Quadratwurzel aus dem Verhältnis der für den Lastabtragung zur Verfügung stehenden Fläche Ac2 und der belasteten Fläche Ac1 in Beziehung gesetzt:

Der Quadratwurzelansatz ist rein empirischer Natur und daher ist dessen Anwendung in den Normen durch mehrere Bedingungen begrenzt: Geometrische Ähnlichkeit der Flächen Ac1 und Ac2, Begrenzung des Festigkeitszuwachses auf den Faktor drei und ausreichend Querbewehrung zur Aufnahme der Spaltzugkräfte. Dabei schränkt die erste Bedingung die Festigkeitserhöhung für Längsfugen in Tunneltübbingen stark ein. Der erforderliche Widerstand der Spaltzugbewehrung kann mit einem einfachen Fachwerkmodell zuverlässig bestimmt werden. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass mit dem Quadratwurzelansatz weder die positive Wirkung der Querbewehrung, die sich in der Nähe des Lasteinleitungsbereichs befindet, noch die der Spaltzugbewehrung, die die erforderliche Mindestmenge überschreitet, berücksichtigt wird. Experimente an Tübbinglängsfugen haben gezeigt, dass wesentlich höhere Lasten aufgenommen werden können, als mit dem Quadratwurzelansatz vorhergesagt. Die Durchführung projektspezifischer Tests ist jedoch teuer und zeitaufwändig.

Als Alternative zum Quadratwurzelansatz können Längsfugen von Tunneltübbingen als Bauteile mit Umschnürungsbewehrung, z.B. nach SIA 262, Ziffer 4.2.1.8, bemessen werden. Dieser mechanisch solide Ansatz, der vor allem bei der Bemessung von Vorspannverankerungen und Druckgliedern verwendet wird, ermöglicht die Aktivierung der Querbewehrung, sowohl in der Nähe der Lasteinleitung als auch der Spaltzugbewehrung, die über das für die Lastausbreitung erforderliche Mindestmass hinausgeht. Dabei wird jedoch der günstige Einfluss der Lastausbreitung bei Teilflächenbelastung vernachlässigt. Zudem bestehen Unsicherheiten, inwieweit die Bewehrung aktiviert werden kann und ob bereits im Grenzzustand der Gebrauchstauglichkeit Abplatzungen des Überdeckungsbetons auftreten können. Nach SIA 262 ist die Kombination des Quadratwurselansatzes mit der günstigen Wirkung der Umschnürungsbewehrung nicht zulässig. Es ist jedoch bekannt, dass sich die Lastausbreitung und die Umschnürungsbewehrung positiv auf die Tragfähigkeit von teilbelasteten Flächen auswirken.

In der Vergangenheit wurden nur wenige Versuche an streifenbelasteten Stahlbetonkörpern mit ausgeprägter Umschnürungsbewehrung durchgeführt. Aus diesem Grund wurde eine Versuchskampagne mit 20 streifenbelasteten Stahlbetonblöcken (350x550x525 mm3) entworfen. Die Proben wurden mittels einer 20 MN Amsler Prüfmaschine an der Empa in Dübendorf getestet (siehe Abbildung 2). Die Probekörper bestanden entweder aus normalfestem Beton, hochfestem Beton oder faserbewehrtem Beton und waren mit geschweissten Leitern, Bügeln oder Doppelkopfankern kontinuierlich in Quer- und Längsrichtung über die gesamte Höhe bewehrt (siehe Abbildung 3). Die Proben wurden mit kleinen Stahlklötzen über eine durchgehende Länge von 450 mm und einer Breite von 140 mm bzw. 210 mm belastet, was einem Lastkonzentrationsverhältnis von 40% (= 140 mm / 350 mm) bzw. 60% (= 210 mm / 350 mm) entsprach. Alle Proben bis auf zwei wurden zentrisch belastet.

Abbildung 2: Versuchsaufbau. (a) 20 MN Amsler Prüfmaschine; (b) und (c) Prüfkörper während und nach dem Versuch.
Abbildung 3: Unterschiedliche Bewehrungslayouts. (a) Geschweisste Leiterbewehrung (b) Bügelbewehrung, (c) Doppelkopfankerbewehrung.

Aus der Versuchskampagne lassen sich die folgenden Schlussfolgerungen für streifenbelastete Stahlbetonblöcke ableiten:

  • Höhere Bewehrungsmengen führen zu höheren Traglasten.
  • In Querrichtung kann Bewehrung bis zu einem geometrischen Bewehrungsgehalt von 4% aktiviert werden.
  • Geschweisste Leiterbewehrung zeigt ein ähnliches Tragverhalten wie Bügelbewehrung und Doppelkopfankerbewehrung.
  • Proben mit Hybridbewehrung (konventionelle Bewehrung kombiniert mit Stahlfasern) weisen höhere Traglasten auf als Proben mit gleicher Menge an konventioneller Bewehrung.
  • Die Traglast von streifenbelasteten Stahlbetonblöcken, normiert mit der Betonfestigkeit, nimmt mit höherer Betonfestigkeit ab.
  • Ein kleineres Lastkonzentrationsverhältnis führt zu einer höheren maximalen Pressung qx,u,exp. Man beachte, dass trotz des Anstiegs der Spannung qx,u,exp bei verringerter Belastungsbreite die Höchstlast aufgrund der kleineren belasteten Fläche abnimmt.

Für weitere Details zur Versuchsreihe wird auf Morger und Kaufmann verwiesen.

Abbildung 4: Vergleich der Versuchsergebnisse mit den Modelvorhersagen als Funktion des mechanischen Bewehrungsgehalts ωc.

In Abbildung 4 ist das Verhältnis zwischen den experimentell gemessenen durchschnittlichen Pressungen beim Versagen qx,u,exp und den Vorhersagen der Bemessungsansätze qx,u,model gegen den mechanischen Bewehrungsgehalt ωc aufgetragen. Abbildung 4 zeigt nur die zentrisch belasteten Probekörper aus normal- und hochfestem Beton. Beim Quadratwurzelansatz ist zu erkennen, dass die Zuverlässigkeit der Vorhersagen mit zunehmendem Bewehrungsgrad abnimmt. Dabei ist zu beachten, dass die Bedingung der geometrischen Ähnlichkeit vernachlässigt wurde. Andernfalls resultierten wesentlich konservativere Vorhersagen. Mit dem Umschnürungsansatz wird der Einfluss unterschiedlicher Bewehrungsgehalte erfasst, jedoch wird die Tragfähigkeit der Versuchskörper unterschätzt, da der Einfluss der Lastausbreitung vernachlässigt wird.

Abbildung 5: Dual-Wedge-Spannungsfeld.

Das kürzlich publizierte mechanisch konsistente Dual-Wedge-Spannungsfeld (siehe Abbildung 5 oder Markic, Morger und Kaufmann) berücksichtigt sowohl die Lastausbreitung als auch die Umschnürungsbewehrung. Im Vergleich mit dem Quadratwurzel- und Umschnürungsansatz zeigt das Dual-Wedge-Spannungsfeld gute Übereinstimmung mit den Versuchen an streifenbelasteten Stahlbetonblöcken. Der detaillierte Vergleich des Dual-Wedge-Spannungsfeld mit den Experimenten wird in einer zukünftigen Publikation präsentiert.


Fabian Morger