Link to English version: Reinforcement affected by local corrosion – minor damage with significant consequences
Die Bewehrung vieler älterer Bauwerke korrodiert. Die Gründe hierfür sind vielfältig und reichen von der Karbonatisierung des Betons über das Eindringen von Chloriden bis hin zu undichtem Überdeckungsbeton. Das Schadenspotential ist gerade bei lokaler Korrosion der Bewehrung (bspw. Lochfrasskorrosion infolge von Chloriden oder undichter Überdeckung) beträchtlich, da die Korrosionsgeschwindigkeit durch Makroelementbildung sehr hoch ist (Querschnittsabtrag typischerweise im Bereich von 1 mm pro Jahr). Doch welche Auswirkungen haben lokale Korrosionsschäden eigentlich auf die Tragfähigkeit und das Verformungsvermögen betroffener Bauwerke? Davon handelt dieser Blogbeitrag.
Versteckter Schaden – grosse Unsicherheit
Eine Pilotstudie des Bundesamtes für Strassen ASTRA ergab, dass die Bewehrung vieler Winkelstützmauern entlang der Autobahnen, welche in den 1960er und 1970er Jahren gebaut worden sind, korrodiert. Im Schnitt wiesen rund 36% der untersuchten Bewehrungsstäbe Korrosionsschäden auf, der Querschnittsverlust der betroffenen Stäbe betrug im Mittel 25%. Betroffen ist die hangseitige Biegebewehrung oberhalb der Arbeitsfuge zwischen Fundament und aufgehender Wand. Die plausibelste Ursache für die lokale Korrosion sind Kiesnester, also undichter Überdeckungsbeton, infolge unsauberen Einbringens und Verdichtens des Wandbetons, ohne massgeblichen Einfluss von Chloriden.
Die Detektion der Korrosion bei diesen Bauwerken erwies sich in der Pilotstudie als äusserst schwierig. Die Stärke der Mauern oberhalb des Fundaments war zu gross, als dass mit bekannten Messverfahren von der Luftseite her eine zuverlässige Aussage zum Zustand der hangseitigen Bewehrung gemacht werden konnte. Das Schadensausmass zeigte sich erst durch die visuelle Inspektion der Bewehrung, d.h. nach vorgängigem Erstellen von Schächten hinter der Mauer und Abtrag des (schadhaften) Überdeckungsbetons.
Aufgrund der entstandenen Unsicherheit hinsichtlich Anzahl betroffener Stützmauern und deren Tragverhalten startete das ASTRA zusammen mit dem Bundesamt für Verkehr BAV (auch die Bahn hat viele Winkelstützmauern) fünf Forschungsprojekte, wovon wir eines bearbeiten dürfen. Dieses Projekt befasst sich mit dem Tragverhalten und Verformungsvermögen von Winkelstützmauern mit lokal korrodierender Bewehrung. Eine erste Einschätzung im Rahmen des Projekts ergab, dass die Tragfähigkeit der Stützmauern überproportional verringert sein dürfte (also stärker als wenn lediglich der vorhandene Verlust an Bewehrungsfläche betrachtet wird). Zudem ist das Verformungsvermögen durch die lokale Schädigung drastisch reduziert. Letzteres ist insbesondere von Relevanz, da diese Mauern nach der damaligen Normengeneration häufig nur auf aktiven Erddruck bemessen wurden. Dies setzt jedoch eine Verformung der Wand und damit ein ausreichendes Verformungsvermögen im Grenzzustand der Tragsicherheit voraus. Ist das Verformungsvermögen reduziert, so ist neben der verminderten Tragfähigkeit zudem von einer erhöhten Einwirkung (im Extremfall dem Erdruhedruck) auszugehen – eine unschöne Ausganglage für eine Überprüfung.
Lokale Korrosion – vielfältige Auswirkungen
Die Forschung hat erkannt, dass die Schädigungsgeometrie (Morphologie) das Verhalten eines Bewehrungsstabs rund um die Korrosionsstelle massgebend beeinflusst. Infolge der lokalen Verjüngung laufen die Spannungstrajektorien zusammen, es entsteht ein inhomogener, dreidimensionaler Spannungszustand im Querschnitt. Die am ungeschädigten Bewehrungsstab ermittelten Materialkennlinien verlieren ihre Gültigkeit.
Durch die Verschiebung der Neutralachse bei einseitig geschädigten Stäben – eine bei Lochfrass häufig vorkommende Schädigungsgeometrie – entstehen zudem lokal Biegemomente, welche der Zugbelastung superponiert werden müssen. Das zusätzlich einwirkende Biegemoment reduziert sich zwar mit zunehmender Plastifizierung des Stahls (es bildet sich ein lokales Fliessgelenk), durch die grosse Krümmung wird aber die Bruchdehnung vergleichsweise früh erreicht. Dies kann zu einem vorzeitigen Versagen führen, wie experimentelle Untersuchungen im Rahmen dieses Projekts gezeigt haben.
Seit Ende der 1970er Jahre wird ein Grossteil des Bewehrungsstahls weltweit im sog. «Tempcore-Verfahren» hergestellt (warmgewalzt und aus der Walzhitze vergütet), so auch in Europa. Der Querschnitt dieser Stäbe besteht aufgrund des Produktionsprozesses aus drei verschiedenen Materialschichten, welche unterschiedliche Eigenschaften aufweisen. Wenn ein Tempcore-Stab korrodiert, so ändert er aufgrund seines schichtweisen Aufbaus mit fortschreitendem Materialverlust laufend seine mechanischen Eigenschaften. Insbesondere nimmt seine Festigkeit kontinuierlich ab, da das Kernmaterial gegenüber dem Mantel eine fast 30% geringere Festigkeit aufweist.
Die Schädigung eines Bewehrungsstabes über eine kurze Länge erweist sich für sein Verformungsvermögen als äusserst ungünstig. Der Stab dehnt sich insbesondere im geschwächten Bereich, die Verformung lokalisiert sich (engl.: strain localisation). Kritisch wird es spätestens dann, wenn der geschädigte Querschnitt vor dem Bruch nicht mehr genügend Kraft übertragen kann, um die daran anschliessenden, ungeschädigten Stabbereiche ins Fliessen zu bringen. Der Stab hat dann praktisch sein gesamtes plastisches Verformungsvermögen verloren. Für heutige Stäbe aus europäischer Produktion ist dieser Punkt bereits bei kleinen Querschnittsverlusten zwischen 12% und 20% erreicht (zur Erinnerung: der mittlere Querschnittsverlust in der Pilotstudie des ASTRA betrug 25%). Erschwerend kommt hinzu, dass der kritische Schnitt bei den Stützmauern am Rand eines Bewehrungsstosses liegt (die Bewehrung wurde typischerweise oberhalb der Arbeitsfuge gestossen). Dies ist eine Zone mit ohnehin eingeschränktem Verformungsvermögen, wie eine neue, noch unveröffentlichte Studie zeigt.
Forschung im Kleinen – und im Grossen
Neben mehr als 100 Zugversuchen an Bewehrungsstäben mit unterschiedlichsten Schädigungsgeometrien wurden im Rahmen dieser Forschungsarbeit auch 8 Grossversuche an Stützmauerausschnitten im Large Universal Shell Element Tester LUSET durchgeführt. Die Wände waren 2.0 m breit, 1.7 m hoch, 0.38 m stark und standen auf Fundamenten mit Abmessungen von 2.1 x 0.4 x 1.4 m. Die mehr als sechs Tonnen schweren Elemente repräsentierten den untersten Teil einer 4.7 m hohen Stützmauer und wurden im LUSET am Elementkopf mit einer entsprechenden Kombination aus Normal- und Querkraft sowie dem in dieser Höhe wirkenden Biegemoment belastet.
Die Wandelemente wurden mit modernster Messtechnik instrumentiert. Mittels faseroptischer Dehnungsmessung konnte die Spannung in der Bewehrung ermittelt und alle paar Millimeter dargestellt werden. Ein dreidimensionales Bildkorrelationssystem (DIC) gab Aufschluss über die Verformung der Wand sowie die Kinematik der entstandenen Risse mit einer Genauigkeit von einigen Hundertstel Millimetern.
Um den Einfluss des Querschnittsverlusts infolge Korrosion zu untersuchen, wurden einzelne Bewehrungsstäbe vorgängig mechanisch mit einem Radiusfräser von 20 mm Durchmesser auf Höhe der Arbeitsfuge geschädigt. Diese Art von «künstlicher Korrosion» führt, wie vorgängige Versuche in Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Ueli Angst gezeigt haben, zu unwesentlich anderem Verhalten als eine «natürliche» elektrochemische Korrosion. In drei Hybridversuchen wurden vier (von 10) Bewehrungsstäbe direkt während des Versuchs mit am Fundament befestigten, vollautomatisch gesteuerten Bohrmaschinen schrittweise geschädigt. Mit Hilfe eines Modells des Instituts für Geotechnik (Prof. Dr. Alexander Puzrin, David Perozzi), welches den Erddruck in Abhängigkeit der Wandverformung simulieren kann, wurde die aufgebrachte Last unter Einbezug der gemessenen Wandkopfverschiebung fortlaufend aktualisiert und der Versuchskörper so realitätsgetreu belastet.
Was wir nun wissen – und was noch nicht
Die Traglast von Bauteilen mit lokal korrodierter Bewehrung ist überproportional reduziert, dies infolge lokaler Phänomene rund um die Korrosionsstelle. Berechnungsmodelle, die lediglich den Querschnittsverlust berücksichtigen, überschätzen daher die tatsächlich vorhandene, verbleibende Traglast.
Eine lokale Schwächung der Bewehrungsstäbe führt bereits bei kleinen Querschnittsverlusten zu einem drastisch eingeschränkten, um bis zu 85% geringeren Verformungsvermögen eines Bauteils. Damit sind sämtliche Modelle, die auf dem unteren Grenzwert nach der Plastizitätstheorie basieren, – also die Mehrheit der Normnachweise – nicht mehr uneingeschränkt gültig, und das tatsächliche Verformungsvermögen muss im Detail untersucht werden.
Die Resultate der durchgeführten Versuche an Bewehrungsstäben und Stützmauerausschnitten belegen obige Aussagen eindrücklich. Die innerhalb dieses Forschungsprojekt entwickelten Modelle – ausgehend von einer Erweiterung des Zuggurtmodells – bilden einen vielversprechenden Ansatz zur Beschreibung des verbleibenden Last-Verformungs-Verhaltens von Bauteilen mit lokaler Bewehrungskorrosion. Sie können sowohl für die Überprüfung von Winkelstützmauern wie auch von anderen Bauteilen, für welche das Verformungsvermögen relevant ist (bspw. Brückenquerschnitt über Mittelauflager), herangezogen werden.
Eines der Ziele dieses Projekts ist die Erarbeitung von (vereinfachten) Überprüfungsregeln für die Praxis. Wie genau diese ersten Forschungsresultate von Ingenieuren, die mit der Überprüfung solcher Bauwerke betraut sind, genutzt werden können, wird derzeit noch diskutiert. Der Fokus hierbei sind u.a. die Folgen einer nur sehr eingeschränkt möglichen Detektion von Korrosionsschäden, sowie ob und wie die Beobachtungsmethode angewandt werden könnte, um korrodierende Stützbauwerke weiterhin sicher betreiben zu können.
Ob filigrane Stützbauwerke tatsächlich «passé» sind, wie der Titel eines Interviews im Tec21 (40/2016) lautete, ist am Ende eine Entscheidung der Bauherrschaft. Die Exposition ist grundsätzlich moderat (Erdkontakt, wechselfeucht, ohne Chloride), und bei korrekter Bauweise (d.h. Anbringen einer sog. «Kickerschalung» und gute Verdichtung des Wandbetons, allenfalls Abkleben der Betonierfuge) sind solche Bauwerke grundsätzlich nicht stärker korrosionsgefärdet als andere, vergleichbare Bauteile. Ein genereller Paradigmenwechsel zu massiven Schwergewichtsmauern, mit entsprechend hohem Ressourcenverbrauch und Treibhausgasemissionen, scheint aus unserer Sicht jedenfalls nicht angezeigt zu sein.
Severin Haefliger