Verhalten von statisch unbestimmten Stahlbetontragwerken im Brandfall

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Link to the English version: Fire behaviour of statically indeterminate reinforced concrete structures


Bei Brandversuchen an statisch bestimmten Biegebauteilen (wie einfachen Balken) werden häufig grosse Verformungen beobachtet. Die Verformungen werden zunächst durch den Temperaturgradienten zwischen dem beheizten und dem nicht beheizten Querschnittsrand ausgelöst und später durch die temperaturabhängige Verringerung der Materialeigenschaften verstärkt. Bei statisch unbestimmten Bauteilen werden jedoch Rotationen und/oder axiale thermische Ausdehnungen z. B. an Zwischenauflagern von durchlaufenden Trägern und/oder an Endauflagern behindert. Aufgrund behinderter Rotationen und/oder axialer Ausdehnungen kommt es durch den Temperaturgradienten innerhalb des Querschnitts zu Zwangsschnittgrössen, deren Grösse vom statischen System, der Steifigkeit seiner Bauteile und deren Querschnittswiderstand abhängt.

In Abbildung 1 werden die Folgen einer Brandbeanspruchung an der Unterseite eines statisch unbestimmten, über zwei Felder tragenden Plattenstreifens ersichtlich. Der Plattenstreifen wurde von Kordina and Wesche (1979)  getestet. Abbildung 1a zeigt die elastische Biegemomentverteilung (i) bei Raumtemperatur (bezeichnet als Md,el) unter der Annahme einer gleichmässigen Belastung und des Verhältnisses der Bemessungslast bei Raumtemperatur zu derjenigen unter Brandbedingungen von qd / qd,fi = 1,4 und (ii) unter Brandbedingungen (bezeichnet als Mfi) bei verschiedenen Brandeinwirkungszeiten t = [0, 5, 10, 15, 30] min, wobei die tatsächlichen Lasteinleitungspunkte während des Versuchs berücksichtigt werden. Kordina und Wesche geben an, dass der Plattenstreifen so bemessen wurde, dass bei Raumtemperatur 15% des maximalen elastischen Biegemoments vom Mittelauflager zum Feld umgelagert werden müssen (die sich daraus ergebende Biegemomentverteilung entlang der Plattenachse ist in Abbildung 1a mit der gestrichelten Linie angegeben, bezeichnet als Md,pl). Abbildung 1b zeigt das Biegemoment und die Auflagerkraft beim Mittelauflager während der Zeit t im Brandversuch, beide bestimmt durch Kraftmessungen bei den Randauflagern. Die Kurven zeigen, dass positive Krümmungen, die durch die Brandeinwirkung an der Unterseite der Platte verursacht werden, bereits bei kurzer Branddauer zu einem drastischen Anstieg des Stützmoments und der vertikalen Auflagerkräfte am Mittelauflager führen. In Abbildung 1c sind die gemessene maximale Durchbiegung im Feld und eine Abschätzung der entsprechenden plastischen Rotation am Mittelauflager (berechnet auf der Grundlage der Durchbiegungen im Feld) über die Zeit aufgetragen. Sobald das Fliessmoment nach 15 Minuten Brandeinwirkung erreicht war, traten erhebliche plastische Rotationen auf, die nach 90 Minuten fast 120 mrad betrugen und damit die bei Raumtemperatur erwarteten Werte bei weitem übertrafen (vgl. Bestimmungen in der EN 1992-1-1).

Abbildung 1: Analyse des in Kordina und Wesche beschriebenen Brandversuchs an der Zweifeldplatte 2 (Spannweiten pro Feld = 4 m, Plattenstärke = 100mm). (a) Biegemomentenverteilung bei Umgebungstemperatur (Md) und unter Brandbedingungen (Mfi), (b) Biegemoment und Auflagerkraft beim Mittelauflager B während der Versuchszeit t, und (c) gemessene maximale Durchbiegung im Feld (w) und geschätzte plastische Rotation über dem Mittelauflager (qpl,est.) während der Versuchszeit t.

Im Rahmen der Überarbeitung der EN 1992-1-2 zur Bemessung von Tragwerken im Brandfall haben wir mehrere Versuchsserien zu statisch unbestimmten Bauteilen studiert. Dabei haben wir uns hauptsächlich auf die Versuchsserien konzentriert, die vor fast 50 Jahren an der TU Braunschweig unter der Leitung von Prof. Karl Kordina durchgeführt wurden: Ehm et al. (1970) und Wesche (1974) berichteten über mehrere Brandversuche an Durchlaufträgern, während Kordina and Wesche neun Brandversuche an Zweifeld-Plattenstreifen dokumentierten. Abbildung 2 zeigt die Träger 1 und 4 von Wesche nach Versuchsende und Abbildung 3 zeigt die Platten 1, 2, 4, 5 und 9 von Kordina and Wesche nach Versuchsende.

Abbildung 2: Träger von Wesche nach dem jeweiligen Versuch, (a) Träger 1; (b) und (c) Träger 4.
Abbildung 3: Plattenstreifen von Kordina and Wesche nach dem jeweiligen Versuch: (a) Versagen der Platte 1; (b) Rissmuster über der Zwischenstütze und übermässige Durchbiegungen der Platte 2 nach dem Versuch; (c) Versagen der Platte 4; (d) Versagen der Platte 5; (e) Platte 9 nach dem Versuch.

Die Erkenntnisse aus diesen Versuchen an der TU Braunschweig hatten einen direkten Einfluss auf entsprechende Paragraphen zur Bemessung und konstruktiven Durchbildung für statisch unbestimmt gelagerte Träger und Platten in der EN 1992-1-2:

  • Bei statisch unbestimmten Trägern und Platten muss die obere Bewehrung ins Feld entsprechend der in Abbildung 4 gezeigten Vorgabe konstruktiv durchgebildet werden. In vier Versuchen von Ehm et al. und vier Versuchen von Kordina und Wesche traten früh im Versuch Risse an den Enden der oberen Bewehrung im Bereich des Zwischenlagers auf, noch bevor direkt am Zwischenlager das Fliessmoment erreicht wurde (siehe Abbildung 3c). Zu einem solchen Versagen kann es kommen, wenn bei der Bemessung der Bewehrung den unterschiedlichen Biegemomentkurven zwischen Raumtemperatur und im Brandfall (vgl. auch Abbildung 1a) keine Beachtung geschenkt wird.
  • Bei konstruktiver Durchbildung gem. Abbildung 4 ist die statische Unbestimmtheit bei Trägern im Allgemeinen vorteilhaft, da sie im Vergleich zur statischen Bestimmtheit geringere Achsabstände resp. kleinere Betonüberdeckungen zulässt.
  • Bei Anwendung der tabellierten Daten aus der EN 1992-1-2 dürfen für statisch unbestimmte Bauteile maximal 15% der Biegemomente bei Raumtemperatur vom Zwischenauflager zum Feld umgelagert werden. Durch diese Begrenzung unterbindet EN 1992-1-2 indirekt zu niedrige Bewehrungsgrade bei Zwischenlagern.
  • Über Zwischenauflager ist bei statisch unbestimmten Plattenstreifen ein Mindestbewehrungsgrad von 0,5% erforderlich, sofern ein begrenztes Rotationsvermögen (durch mangelnde Duktilität der Bewehrung) oder ein erhöhter Rotationsbedarf erwartet wird (Zweifeldplatten).
  • Zweiachsig gespannte Platten und axial eingespannte Platten weisen im Allgemeinen in Bezug auf Biegung eine ausreichende Redundanz auf, um einen Einsturz im Brandfall zu vermeiden, wie Wesche (1985) und Wiese (1987) in ihren Dissertationen dargelegt haben. Für Flachdecken verlangt die EN 1992-1-2 (i) leicht höhere minimale Plattenstärken (z.B. h = 200 mm für R90) als für liniengestützte Platten und (ii), für R90 und höher, 20% der oberen Bewehrung im Stützenstreifen von Flachdecken auch im Feld.
Abbildung 4: Vorgabe der EN 1992-1-2 zur Vermeidung einer zu kurzen oberen Bewehrung.

Unter Beachtung dieser Bemessungsregeln können Durchlaufträger gemäss der geltenden Norm EN 1992-1-2 mit geringeren Achsabständen (resp. Betonüberdeckungen) als bei statisch bestimmten Trägern durch Versuchsergebnisse ausreichend abgestützt als sicher angesehen werden. Die Bemessungsregeln für Durchlaufplatten beinhalten jedoch ein beträchtliches Mass an Extrapolation und «engineering judgement», da die experimentellen Grundlagen für Durchlaufplatten spärlich sind: nur drei der neun von Kordina und Wesche  geprüften Plattenstreifen erfüllten den zu erwartenden Brandwiderstand unter Verwendung der tabellarischen Bemessungsdaten in der EN 1992-1-2. Dementsprechend ist ein genügendes Rotationsvermögen bei Deckenplatten nicht selbstverständlich – insbesondere dann nicht, wenn weder eine axiale Einspannung mobilisiert werden kann (wie z. B. bei Zwei-Feld-Tunneldecken), noch eine zweiachsige Lastabtragung möglich ist (viele Fertigteildeckenlösungen).

Darüber hinaus sind plastische Gelenke, die durch die hohen Zwangsschnittkräfte unter Brandbedingungen verursacht werden, relevant für die zuverlässige Modellierung des Verhaltens von Stahlbetontragwerken unter (teilweiser) Brandeinwirkung. Daher haben wir ein Modell zur Beurteilung des Verhaltens von biegebeanspruchten Bauteilen unter Brandbedingungen entwickelt. Das Modell baut auf dem Zuggurtmodell auf, das von Sigrist (1995) für die Untersuchung des Rotationsvermögens von biegebanspruchten Bauteilen bei Raumtemperatur entwickelt wurde. Unser Modell basiert auf den thermischen und mechanischen Materialeigenschaften entsprechend der EN 1992-1-2 und einigen ergänzenden Überlegungen zur biaxialen Betondruckfestigkeit und zur Verfestigung der Bewehrung. Das Tragwerk wurde unter Verwendung von damit hergeleiteten Querschnittsmoment-Krümmungs-Beziehungen analysiert, wobei das globale Gleichgewicht und die Kompatibilität durch Iteration sichergestellt wird.

Abbildung 5 vergleicht (a) die Biegemomente MB am Mittelauflager, (b) die maximalen Durchbiegungen wSpan im Feld und (c) die über 100 mm gemittelten Bewehrungsdehnungen εsm,B am Mittelauflager in den von Kordina und Wesche dokumentierten Plattenstreifen. Im Allgemeinen korrelieren die Modellvorhersagen gut mit den Versuchsergebnissen in Bezug auf den Feuerwiderstand, die Entwicklung der Biegemomente am Mittelauflager sowie die Feldverformungen. Der Vergleich zwischen den Versuchsergebnissen und den Modellvorhersagen zeigt jedoch einen beträchtlichen Einfluss der verwendeten Betonzuschläge, der hauptsächlich durch die entsprechende Wärmeausdehnung des Betons verursacht wird.

Abbildung 5: Vergleich der Versuchsergebnisse und Modellrechnungen für die Platten 1, 2, 3, 5 und 9. (a) Maximales Biegemoment am Mittelauflager (Anmerkung: der schwarze Stern zeigt den Zeitpunkt des Versagens im Versuch an), (b) vertikale und (c) spannungserzeugende Dehnungen der oberen Bewehrung am Mittelauflager (zwei Messungen angegeben).

Mit dem entwickelten Modell haben wir eine parametrische Studie durchgeführt mit dem Ziel, (i) die entscheidenden Parameter in Bezug auf das Verhalten von statisch unbestimmten Stahlbetontragwerken unter Brandbedingungen zu identifizieren und (ii) zu diskutieren, ob die in der EN 1992-1-2 angegebenen Bemessungsregeln auch für Platten mit Abmessungen gelten, die nicht denjenigen aus den beschriebenen Versuchsreihen entsprechen. Die parametrische Studie untersuchte die Auswirkungen von Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Modellierung statisch unbestimmter Systeme, da nicht nur die Steifigkeit und Festigkeit, sondern auch die Schnittgrössen durch die Verwendung vereinfachter Materialmodelle stark beeinflusst werden. Die folgenden Parameter wurden als die einflussreichsten identifiziert:

  • die Duktilität des Bewehrungsstahls (höheres Rotationsvermögen mit höherer Duktilität),
  • der Bewehrungsgehalt (höheres Rotationsvermögen mit höherem Bewehrungsgehalt),
  • die Betonfestigkeit (höheres Rotationsvermögen mit tieferer Festigkeit) und die Art der Zuschlagstoffe des Betons (Rotationsbedarf mit kalkhaltigen Zuschlagstoffen kleiner als mit quarzhaltigen Zuschlagstoffen) sowie
  • die Einspannbedingungen am Bauteilende (günstig für den Brandwiderstand).

Während Projektierende die Duktilität der Bewehrung, den Bewehrungsgehalt und die (charakteristische) Betonfestigkeit vorgeben können, ist es im Allgemeinen nicht möglich, die Zuschlagstoffe in der Planungsphase zu spezifizieren, und die Einspannbedingungen eines Brandabschnitts sind nur schwerlich und ungenau zu quantifizieren. Konzequenterweise konzentrieren sich die Bemessungsempfehlungen der EN 1992-1-2, die hauptsächlich an der TU Braunschweig unter der Leitung von Professor Kordina entwickelt wurden, auf die von Projektierenden beeinflussbaren Eigenschaften.

Auf der Grundlage unserer parametrischen Studie kann davon ausgegangen werden, dass die in der EN 1992-1-2 enthaltenen Bemessungsregeln für praktische Anwendungen allgemein gültig sind. Das Rotationsvermögen ist für die meisten untersuchten Platten mit einem Bewehrungsgrad von 0,5 % ausreichend. Zwar decken die Vorgaben zur konstruktiven Durchbildung nicht alle Eventualitäten ab, wie z. B. das mangelnde Rotationsvermögen bei Verwendung von hochfestem Beton oder grosse Umlagerungen von Querkräften in Richtung von Zwischenauflagern, sie gewährleisten jedoch für die meisten, derzeit in der Praxis angewandten Durchlaufplatten ein genügendes Sicherheitsniveau und sind einfach anwendbar.

Wir konnten mit unserer parametrischen Studie ebenso zeigen, dass die Modellierung von statisch unbestimmten Systemen mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist, wenn (i) die Informationen über das verwendete Material unvollständig sind oder (ii) die angewandten Modelle das verwendete Material nicht oder nur unzureichend beschreiben (z. B. fehlende Verfestigung in der Spannungs-Dehnungs-Beziehung für Betonstahl). Die Betonzuschlagsart mit ihrer entsprechenden thermischen Ausdehnung, die Berücksichtigung der Verfestigungseigenschaften der Bewehrung und der Zugversteifung können bei der Modellierung von statisch unbestimmten Biegebauteilen unter Brandeinwirkung über mehrere Brandwiderstandsklassen entscheiden.


Patrick Bischof


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