Sind Fachwerkmodelle im 21. Jahrhundert noch zeitgemäss?

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Link to English version: Are truss models outdated in the 21st century?


Wer wie ich an der ETH studiert hat, kennt die Antwort auf die Frage, welche der Titel des Blogeintrags aufwirft: Generationen von Bauingenieuren und Bauingenieurinnen eigneten sich nicht grundlos Wissen über Fachwerkmodelle und Spannungsfelder an, und auch heute noch sind sie, als wertvolle Instrumente für die Bemessung im Betonbau, in meinen Vorlesungen von zentraler Bedeutung. Vielleicht interessiert es Sie aber, weshalb ich es keineswegs als selbstverständlich erachte, dass Fachwerkmodelle auch in Zukunft verwendet werden – und was wir unternommen haben, um dem Aussterben dieser Methoden entgegenzuwirken?

Die Ursprünge von Fachwerkmodellen reichen bis in die Anfangszeit des Betonbaus zurück. Auf eine konsistente mechanische Grundlage gestellt und für die Bemessung verwendet wurden sie allerdings erst viel später: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wagten es einige Pioniere, darunter Professor Thürlimann und seine Mitarbeiter an der ETH Zürich, Traglastverfahren auf Stahlbeton anzuwenden. Sie interpretierten dazu Fachwerkmodelle als diskontinuierliche Spannungsfelder, und diese wiederum als Lösungen nach dem unteren Grenzwertsatz der Plastizitätstheorie. Fachwerkmodelle liefern somit konservative Resultate und ermöglichen es, Zwangsbeanspruchungen zu vernachlässigen – was sie zum perfekten Instrument für die Bemessung im Grenzzustand der Tragsicherheit macht.

So selbstverständlich dies zumindest den ETH-Alumni unter uns erscheinen mag, war es das  damals keineswegs. Vielmehr stiess die neue Theorie anfänglich selbst innerhalb der ETH Zürich auf heftigen Widerstand (siehe beispielsweise Basler 1983). In der Tat ist die Duktilität der Bewehrung, und vor allem diejenige des Betons, natürlich begrenzt. Durch die Vernachlässigung der Zugfestigkeit des Betons, das Vorsehen einer Mindestbewehrung und die Anwendung vorsichtiger Werte für die Betondruckfestigkeit kann jedoch ein duktiles Verhalten gewährleistet und damit die Voraussetzung für die Anwendung der Plastizitätstheorie geschaffen werden. Diese konstruktiven Regeln einzuhalten ist bekanntlich generell ratsam. Andernfalls wird die Bemessung semi-empirisch und damit um Grössenordnungen komplizierter.

Zurück zu den Fachwerkmodellen: Sie bilden, wie bereits gesagt, eine konsistente Grundlage für die sichere Bemessung von Betonbauten, und sie ermöglichen in vielen Fällen eine direkte Bemessung der Bewehrung für eine gegebene Beanspruchung. Der Kraftfluss kann verfolgt werden und die Berechnungen sind transparent und nachvollziehbar. Vor allem aber hat der Ingenieur resp. die Ingenieurin die Kontrolle über die Bemessung und kann beispielsweise ein praxistaugliches Bewehrungslayout wählen. All dies sind klare Vorteile bei einer Anwendung in der Bemessungspraxis.

Fachwerkmodelle haben aber auch Nachteile. Da ihre Geometrie meist iterativ angepasst werden muss und verschiedene Laststellungen zu untersuchen sind, ist die Anwendung als Handrechnung in der Praxis oft aufwändig. Zudem eignen sie sich nicht direkt für die Ermittlung von Durchbiegungen und Rissbreiten im Gebrauchszustand, wofür weitere Modelle herangezogen werden müssen, und die in modernen Normen stipulierte Abhängigkeit der Druckfestigkeit des Betons vom Verzerrungszustand erschwert die händische Entwicklung von Fachwerkmodellen enorm.

Daher besteht in der Praxis eine klare Tendenz, für die Tragwerksanalyse und Bemessung eines der heute verfügbaren, benutzerfreundlichen Computerprogramme auf Basis der Methode der finiten Elemente (FE) einzusetzen, welches für die Grenzzustände der Tragsicherheit und Gebrauchstauglichkeit verwendet werden kann – was zwar oft unpraktische und unwirtschaftliche Bewehrungen ergibt, aber automatisierbar und damit bei der Bemessung sehr effizient ist.

Dies gilt für händisch entwickelte Fachwerkmodelle und Spannungsfelder leider nicht. Wenn diese Schwächen nicht beseitigt werden, besteht die reale Gefahr, dass sie bald nur noch im Hörsaal eingesetzt werden – und vielleicht noch als anschauliches Hilfsmittel für die Formfindung und das Verfolgen des Kraftflusses im konzeptionellen Entwurf. Dies war mir bereits bewusst, als ich noch in der Praxis tätig war, und ich wusste auch schon, wie man dieser Entwicklung entgegenwirken kann, hatte doch mein Vorgänger bereits vor über 30 Jahren die Lösung vorgeschlagen (siehe Zitat): Fachwerkmodelle müssen in benutzerfreundliche Computerprogramme implementiert werden, ohne dabei ihre Vorteile – Transparenz und Kontrolle über die Bemessung – zu beeinträchtigen.

Recent advances in computer development indicate that there might be much better ways of using the unique capabilities of computers to assist reinforced concrete designers in the future. There is a considerable potential for applying interactive computer programs with graphical input and output that could replace the traditional drawing board and pocket calculator methods for developing truss models. Apart from ultimate strength considerations, such programs would allow us to investigate the deformations in the cracked state by taking appropriate truss member stiffnesses into account.

Peter Marti: “Truss Models in Detailing,” Concrete International, Vol. 7, No. 12, Dec. 1985, pp. 66-73

Die Zeit war aber noch lange nicht reif für eine Umsetzung dieser visionären Idee. Erste Programme für ideal plastische Spannungsfelder (u.a. Hajdin 1990) waren wenig benutzerfreundlich. Weder diese, noch die kurze Zeit später entwickelten Programme zur plastischen Bemessung auf Basis linear elastischer FE-Analysen (u.a. Despot 1995) waren in der Lage den Gebrauchszustand oder das Verformungsvermögen zu untersuchen.

Auch als Anfang des 21. Jahrhunderts erste Programme für die automatisierte Stahlbetonbemessung mit Fachwerkmodellen entwickelt wurden, setzten sich diese in der Praxis nicht durch. Diese diskontinuierlichen Modelle scheiterten an der automatisierten, zuverlässigen Bestimmung von Betondruckfestigkeit und Steifigkeiten.

Das an der EPFL entwickelte Programm EPSF zeigte aber, dass die Verwendung kontinuierlicher Spannungsfelder dies bedeutend vereinfacht (siehe Fernández Ruiz und Muttoni 2007). Im Wesentlichen ist EPSF eine vereinfachte FE-Berechnung. Das Programm ist frei verfügbar, setzt jedoch Java-Script Kenntnisse voraus und ist für Untersuchungen des Gebrauchszustands und der Duktilität nur bedingt geeignet, da die Zugversteifung vernachlässigt und linear elastisch-ideal plastisches Materialverhalten vorausgesetzt wird.

Eigentlich ist die Implementierung realitätsnäherer Stoffgesetze aber leicht umsetzbar, und insbesondere das von Viktor Sigrist und Manuel Alvarez entwickelte Zuggurtmodell (Marti et al. 1998) eignet sich dafür hervorragend. Einerseits wird damit die Mitwirkung des Betons zwischen den Rissen mechanisch konsistent erfasst, andererseits ist der Tragwiderstand unabhängig von der Zugfestigkeit des Betons, womit die Verbindung zu plastischen Bemessungsverfahren gewährleistet bleibt. 

Als mich kurz nach meiner Rückkehr an die ETH Zürich die Tschechische Software-Firma IDEA StatiCa kontaktierte, um gemeinsam «ein Tool für automatisierte Fachwerkmodelle» zu entwickeln, schlug ich daher genau dies vor: Kontinuierliche Spannungsfelder mit dem Zuggurtmodell zu verknüpfen. In der Zwischenzeit ist daraus die Compatible Stress Field Method (CSFM) entstanden, und das darauf basierende Programm IDEA StatiCa Detail. Dieses ist weltweit erhältlich, auch in der Schweiz (https://www.ingware.ch/produkte/statik-und-dynamik/idea-statica-detail/idea-statica-detail.html).

Als kommerzielle Software ist IDEA StatiCa Detail (nach Ablauf der kostenlosen Testlizenz) zwar nicht gratis, dafür aber sehr benutzerfreundlich und leistungsfähig. Die Grundprinzipien und die Ergebnisse seiner Validierung an zahlreichen Beispielen sind in einem Verification Book zusammengestellt, und ich habe das Programm kürzlich – mit einem etwas ausführlicheren geschichtlichen Rückblick auf die Entwicklung von Spannungsfeldern und einigen Anwendungsbeispielen – an einer Schulung vorgestellt (hier geht’s zum Youtube-Video).

Weder ich persönlich noch die ETH Zürich haben übrigens ein finanzielles Interesse am Vertrieb von IDEA StatiCa Detail. Unser Vorteil ist immaterieller Art: Wir hoffen, damit einen Beitrag zum Erhalt der gefährdeten Spezies der Fachwerkmodelle und Spannungsfelder zu leisten. Egal, ob sie dieses Anliegen teilen oder einfach ein effizientes Tool für die Bemessung von Stahlbetontragwerken mit Spannungsfeldern suchen: Es würde uns freuen, wenn Sie das Programm bei Gelegenheit einmal ausprobieren.

Walter Kaufmann