Lernen zu lernen: Digitale Lernapplikationen in der Stahlbeton-Vorlesung

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Link to English version: Learning to learn: Digital learning applications for structural concrete

So wie das grundsätzliche Prinzip der Betonherstellung sich in den letzten hundert Jahren nur geringfügig geändert hat, so scheint die Lehre im Stahlbetonbau seit jeher gleich geblieben zu sein. Der Unterrichtsstoff basiert auf einer konsequenten Anwendung des Gleichgewichts und einem starken Fokus auf mechanisch konsistente Modelle, deren Tradition an der ETH insbesondere durch Prof. Thürlimann und Prof. Marti geprägt wurde. Dies stärkt nicht nur die Kompetenz im Stahlbetonbau, sondern bildet allgemein ein gutes Fundament für die Ausbildung junger Bauingenieur*innen. Die Auszeichnung von Prof. Kaufmann mit der Goldenen Eule für besondere Leistungen in der Lehre, welche vom Verband der Studierenden der ETH vergeben wird, zeigt zudem auf, dass der Unterricht als kompetent und authentisch wahrgenommen wird. Obwohl wir vom Inhalt unserer Vorlesungen überzeugt sind, sehen wir immer noch Verbesserungspotential – vor allem bezüglich der Unterrichtsmethoden und der dabei verwendeten Hilfsmittel.

Digitalisierung in der Lehre

Der Beton hat im Laufe der Zeit einige Anpassungen in seiner Rezeptur erfahren und auch unsere Vorlesungen wurden zeitgemäss angepasst. Statt einer handgeschriebenen Autographie sind die Folien nun digital. Anstatt ausschliesslich an der Wandtafel zu arbeiten, werden die Notizen nun teilweise auf dem iPad verfasst und projiziert. Ist diese milde Digitalisierung aber tatsächlich eine Innovation in der Lehre? Die klassische Art des Frontalunterrichts scheint alternativlos bei der Wissensvermittlung. Die Fülle an Informationen während einer Vorlesung ist jedoch immens und nicht immer schaffen es die Studierenden, alles aufzunehmen und direkt zu verarbeiten. Oft findet die richtige Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff erst später statt: beim Lösen der Kolloquien und Hausübungen oder erst kurz vor der Prüfung, deren Vorbereitung davon geprägt ist, «Kochrezepte» für gewisse Aufgabentypen zu verinnerlichen. Dabei bleibt das Verständnis der Materie leider oft auf der Strecke. Selbstverständlich sehen wir uns als Lehrende hier in der Verantwortung. Wie können wir also die Lehre verbessern, um den Studierenden einen einfacheren Zugang zur eher trockenen Theorie zu ermöglichen?

Typische Vorlesung im Hörsaal (Foto vor der Pandemie aufgenommen).

Innovedum – «Advancing education at ETH»

Unter der Marke “Innovedum” fördert Rektorin Prof. Springman «Initiativen, welche die Lehre an der ETH qualitativ und langfristig weiter entwickeln». Daraus sind bereits zahlreiche innovative Lehr- und Lernprojekte in verschiedenen Disziplinen und mit unterschiedlichen Ansätzen entstanden, beispielsweise Hands on-Workshops oder Gamification der Lehrinhalte.

So fragten auch wir uns, wie neue Lehrelemente eingeführt werden könnten, um das kritische Denken und die Selbstinitiative der Studierenden zu fördern. In der Stahlbeton-Vorlesung befassen wir uns vorwiegend mit der Statik von Tragwerken, welche mittels Grenzzuständen (beispielsweise bezüglich der Tragsicherheit) beschrieben werden. Zwar können diese sauber und mechanisch konsistent hergeleitet werden, sie sind jedoch begrenzt auf isolierte Zustände mit vordefinierten Parametern und vermögen nur bedingt das nicht-lineare Verhalten des Stahlbetons adäquat darzustellen. Das neue Lernmaterial sollte sowohl eine dynamische Darstellung der Resultate wie auch die Möglichkeit zur aktiven Veränderung von Parametern bieten. Aus dieser Idee entstand im Rahmen eines vom Innovedum-Fonds finanzierten Lehrprojekts die Entwicklung von digitalen Lernapplikationen für die Stahlbeton-Vorlesung.

Virtuelle Experimente und Tragwerksanalyse

Der Grossteil der Applikationen besteht aus virtuellen Experimenten, in denen Bauteile und Tragwerke unter verschiedenen Beanspruchungsarten untersucht werden können. Dabei gibt es Beispiele, wo der momentane Spannungszustand bei gegebener Belastung betrachtet wird, aber auch Anwendungen, wo das Last-Verformungsverhalten unter steigender Last verfolgt werden kann. Zentral war für uns, dass die Studierenden die Eingabeparameter möglichst frei verändern können. Die kontinuierliche Verfolgung der Ausgabeparameter sorgt dabei für ein besseres Verständnis der Übergänge zwischen den analytisch behandelten Grenzzuständen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Interaktion von Biegung und Normalkraft in Stahlbetonstützen. In der Vorlesung lernen wir, wie wir mithilfe des Dehnungszustands und der Stoffgesetze den Spannungszustand im Stahlbetonquerschnitt bestimmen können. Schon mit wenigen charakteristischen Paaren von Biegung und Normalkraft lässt sich somit eine linearisierte Hüllkurve für die Traglast im MN-Diagramm konstruieren. Die Änderung der Spannungs- und Dehnungszustände zwischen diesen charakteristischen Punkten erscheint aufgrund der nicht-linearen Beziehungen relativ komplex. Dabei handelt es sich rein geometrisch nur um eine Rotation der Dehnungsebene, was sich wunderbar in einer dynamischen Abbildung darstellen lässt. Durch die Änderung der wirkenden Normalkraft mittels eines Schiebereglers kann man im eigenen Tempo die sich ändernden Dehnungen und Spannungen beobachten (siehe Animation unten). Beispielsweise lässt sich so einfach erkennen, dass im Punkt des maximalen Biegemoments die massgebende Dehnung mit steigender Drucknormalkraft nicht mehr im Bewehrungsstahl sondern im Beton auftritt.

Veränderung der Lastkombination mittels Slider – direkte graphische und numerische Ausgabe der Resultate.

Nicht nur die Einwirkungen können verändert werden, sondern auch die Geometrie und die Bewehrung. So lässt sich zeigen, dass eine Verdoppelung des Bewehrungsgehalts eben nicht zu einer Verdoppelung des Biegewiderstands bei gegebener Normalkraft führt. Diese Erkenntnisse mögen trivial erscheinen. Wir sind jedoch überzeugt, dass bereits solch einfache Darstellungen und die kleinen Aha-Erlebnisse erheblich zum Verständnis beitragen und die Neugier der Studierenden für das effektive Verhalten von Stahlbeton, welches über das Berechnen von Grenzzuständen mithilfe starrer Formeln hinausgeht, fördern können.

Parametrisierung der Geometrie und Bewehrungsgehalte.

Die Applikationen sind zudem hilfreich für Problemstellungen, die wir grafisch lösen, deren händische Erarbeitung jedoch relativ aufwendig ist, insbesondere wenn mehrere Zustände betrachtet werden sollen. Dies zeigt sich beispielsweise bei den Fachwerkmodellen, wo die wandernde Einzellast über den Balken verschiedene Neigungen der Spannungsfelder erzeugt und deren Einfluss auf den inneren Lastabtrag untersucht werden kann. Das Potential dieser einfachen Visualisierungen zeigt sich in zahlreichen weiteren Anwendungen wie Mohrsche Kreise, Fliessbedingungen, dreidimensionale Bruchmechanismen in Platten und viele mehr.

Fachwerkmodell für einen einfachen Balken mit Einzellast.

Die digitalen Lernapplikationen decken mittlerweile fast alle Themengebiete ab, welche wir im Stahlbeton behandeln, und sind somit ein ständiger Begleiter der Lehrveranstaltung. Sie bieten dabei vielfältige Vorteile: In der Vorlesung veranschaulichen sie beispielsweise neu eingeführte Themen oder sie erlauben in den Hausübungen effizientere Parameterstudien. Unser oberstes Ziel wäre schliesslich, dass die Studierenden auch unabhängig von gegebenen Aufgabenstellungen die Apps selbständig erkunden können, da das vermittelte Wissen nicht nur spezifisch für Stahlbeton sondern grundsätzlich für alle Arten von Baustoffen und Tragwerken anwendbar ist. Noch sind nicht alle Applikationen bezüglich des theoretischen Hintergrunds ausführlich dokumentiert. Wir sehen dies jedoch notwendig an, um eine Anwendung als reine Black Box zu vermeiden, und werden dies in der Zukunft noch weiter ergänzen.

Auswahl verschiedener Darstellungsarten der Resultate.

Die digitalen Apps wurden zudem ergänzt mit einigen physikalischen Modellen. Beispielsweise verwenden wir einen vorgespannten Balken, der aus Schaumstoffsegmenten besteht. Die Wirkung der Vorspannung und die Dekompression der Querschnitte können somit sowohl im physikalischen Modell als auch in der App dargestellt werden. In Zukunft möchten wir auch vermehrt reale Versuche aus unserer experimentellen Forschung den Simulationen gegenüberstellen. Denn auch diese virtuellen Experimente bleiben – wenn auch dynamisch und animiert – eine Modellvorstellung. Die Beobachtung von tatsächlich beanspruchten Bauteilen und Tragwerken gibt dabei eine bessere Vorstellung, was diese theoretisch formulierten Versagenszustände überhaupt in der Realität bedeuten.

Physisches Modell eines vorgespannten Balkens und entsprechende digitale Applikation.

Herausforderungen in der Entwicklung und Implementierung

Die Entwicklung der Webapplikationen sowie deren Implementierung in den bestehenden Unterrichtsstoff stellten eine grosse Herausforderung dar. Unser Alltag ist bereits stark geprägt von digitalen Apps verschiedenster Art und insbesondere die digital native Generation hat hohe Ansprüche an die Nutzerfreundlichkeit. Für eine erfolgreiche Umsetzung war somit neben der fachlichen Ingenieurkompetenz auch das Webdesign ein prägender Faktor. Die Apps sollten im Erscheinungsbild wie auch in der intuititven Anwendung einen Wiedererkennungswert aufweisen. Gleichzeitig sollte die verwendete Plattform einen einfachen Einstieg ermöglichen, so dass die Applikationen auch von der zukünftigen Generation von Assistierenden stetig weiterentwickelt werden können. Die Erarbeitung der technischen Grundlagen verlangte daher einiges an Zeit und es waren mehrere Iterationen notwendig, bevor die erste App überhaupt programmiert werden konnte.

Wir hatten den Anspruch, dass die Webanwendungen als integraler Bestandteil des Unterrichts wahrgenommen werden, wobei wir diese nicht einfach als zusätzliches Element in einem bereits höchst umfangreichen Kurs einführen konnten. Gemäss einer Studierendenbefragung wurden die Applikationen als Darstellungsinstrument während der Vorlesung sehr geschätzt und auch in der Prüfungsvorbereitung wurden sie rege genutzt. Die Auseinandersetzung während des Semesters schien aber aufgrund fehlender Zeit eher gering zu sein. Dies bestärkte unser Bestreben, weitere Anpassungen in den Kolloquien und Übungen voranzutreiben, um die Anwendung im «alltäglichen» Gebrauch weiter zu fördern.

Fazit und weitere zukünftige Möglichkeiten

Die Entwicklung und Einführung digitaler Lernapplikationen eröffnete uns breitere Möglichkeiten unsere Lehrinhalte in der Vorlesung und in den Übungen zu gestalten, wobei wir vor allem Vorteile in der visuellen dynamischen Interaktion mit den Studierenden sehen. Dies ist nur ein erster Schritt in der Digitalisierung der Lehrinhalte und es gibt bereits viele weitere Ideen für neue innovative Unterrichtsmethoden wie beispielsweise die Anwendung von Augmented Reality (Vermischung von realer Umgebung mit digitalen Inhalten) im Brückenentwurf. Nach wie vor sind wir aber überzeugt, dass das Fundament unserer Lehre im Stahlbetonbau auf der konsequenten Anwendung des Gleichgewichts und mechanisch konsistenter Modelle beruht. Dafür sehen wir ganz klar Papier und Stift als die besten Werkzeuge an. Trotzdem möchten wir Sie einladen, die Applikationen einmal selber zu erkunden. Denn es gibt auch im Stahlbeton-Einmaleins – sei es im Studium, in der Praxis oder in der Forschung – immer wieder Neues zu entdecken.

Danksagung

Dieses Lehrprojekt wurde durch den Innovedum-Fonds der ETH Zürich unterstützt. Ein grosser Dank gilt allen Beteiligten, welche zur Umsetzung der Applikationen beigetragen haben.

Projektverantwortliche: Prof. Dr. Walter Kaufmann, Minu Lee
Webdesign und Entwicklung: Sebastian Wehrli
Applikationen: Lukas Gebhard, Nicola Gehri, Nathalie Reckinger
Revision: Fabian Morger, Andreas Näsbom

Links

Sammlung aller Stahlbeton-Lernapplikationen:
https://concrete.ethz.ch/applikationen/

Learning and Teaching Fair:
https://learning-teaching-fair.ethz.ch/project/visual-interactive-learning-applications/?view=grid

Innovedum-Projektdatenbank:
https://ethz.ch/en/die-eth-zuerich/lehre/innovedum/projektdatenbank.html


Minu Lee