Einsatz Erweiterter Realität (XR) in der Lehre im Stahlbeton

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Link to the English version: Use of Extended Reality (XR) in Teaching Structural Concrete Design


Für das Verständnis der Inhalte der Vorlesungen im Konstruktiven ingenieurbau sind fortgeschrittenes analytisches Denken und Abstraktionsvermögen unabdingbar: reale (3D-)Strukturen unter verschiedenen Belastungssituationen werden mit Hilfe von rechnerischen Ersatzmodellen für bauweisenspezifische Analysen sowie die Auslegung der Bewehrung untersucht. Insbesondere für Studierende des Bauingenieurwesens mit geringer Berufserfahrung stellt diese Abstraktion in den Vorlesungen eine Hürde dar. Im Stahlbeton kommt erschwerend hinzu, dass die verwendeten Modellvorstellungen die Wirklichkeit wesentlich stärker abstrahieren  als in anderen Bauweisen Ein tieferes Verständnis bezüglich der Sachverhalte gewinnen die Studierenden der meist erst in der Reflexion nach der Vorlesung oder in nachfolgenden Übungen und Kollquien. Um den genannten Herausforderungen zu begegnen, entwickeln wir an unserer Professur digitale Demonstratoren und Hilfsmittel zur Unterstützung und Verbesserung der Lehre [1]. Die Hauptideen sind dabei: (i) den üblicherweise papierbasierten Unterricht durch digitale Inhalte zu ergänzen, die über smarte Geräte angezeigt werden; (ii) mobile Technologien zu nutzen, die den Studierenden zur Verfügung stehen, um interaktives, personalisiertes und selbstmotiviertes Lernen anstelle von inhalts- bzw. lehrerzentrierten Anweisungen zu unterstützen; (iii) das Engagement und die Begeisterung der Studierenden für die Vorlesung durch die Immersion in den Vorlesungsinhalt zu steigern, um ein tieferes Verständnis auf individueller Ebene zu fördern; (iv) die traditionellen Lehrmethoden im Bauingenieurwesen zu modernisieren und zu digitalisieren. Zu diesem Zweck haben die Autoren ein mobiles Augmentierte- bzw. Gemische-Realität-Tool (Struct-MRT) [4] konzipiert, implementiert und in Feldstudien unter Studierenden und Lehrenden evaluiert.

Methoden der Erweiterten Realität und deren Einsatz in der Lehre im Bauingenieurwesen

Erweiterte Realität (XR) ist ein Überbegriff für alle Technologien, die reale und virtuelle Umgebungen sowie Mensch-Maschine-Interaktionen kombinieren, die durch Computertechnologie und Mobilgeräte erzeugt werden [2,3]. XR-Technologien schaffen immersive digitale Welten innerhalb des sogenannten Realitäts-Virtualitäts-Kontinuums [2,2] in unterschiedlichem Ausmass je nach Intention, vgl. Abbildung 1. Augmentierte Realität (AR) befindet sich auf der linken Seite des Realitäts-Virtualitäts-Kontinuums in Abbildung 1, wo die reale Welt mit digitalen Inhalten erweitert wird. “Google Glass” oder “Bosch Smartglasses Light Drive BML500P” sind hierbei typische AR-Geräte. Virtuelle Realität (VR) befindet sich auf der rechten Seite des Kontinuums, wobei der Nutzer z. B. über das “Oculus Quest”-Gerät von Facebook in eine vollständig digitale Umgebung eintaucht und die reale Umgebung ausblendet. Gemischte Realität (Mixed Reality / MR) liegt zwischen den genannten Extremen und umfasst alle Technologien, bei denen computergenerierte Inhalte in unterschiedlichen Anteilen mit der Sicht des Einzelnen auf die reale Welt vermischt werden. Das derzeit populärste Gerät für MR ist das “Microsoft HoloLens” Headset.

Abbildung 1: Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum, aus [2,3]

Derzeit liegen nur wenige Forschungsarbeiten zur Entwicklung und Integration von XR-Technologien in die Bauingenieur-Lehre vor. Es gibt jedoch wissenschaftliche Belege dafür, dass XR das Lernen von abstrakten und schwer verständlichen Themen erleichtert [4 – 6]. Zudem hat die derzeit immer noch herrschende globale Pandemie (COVID-19) viele Hochschulen und Firmen dazu veranlasst, die Art und Weise des Arbeitens, Lehrens und Lernens zu verändern. In unseren prototypischen Studien wurden Inhalte aus verschiedenen Stahlbeton-Vorlesungen als AR Anwendungen für Smartphones und Tablets entwickelt, vgl. Abbildung 2, und als methodische Workflows (Struct-MRT), vgl. Abbildung 3, anderen Lehrenden zur Verfügung gestellt.

Abbildung 2: QR-Codes (links) und Impressionen (rechts) der AR / MR Anwendungen: (oben) Betonkonsole; (unten) Torsionsbalken

Moderne XR-fähige Smartphones und Tablets sind erschwinglich und vielfach bei Lehrenden und Studierenden verfügbar, so dass diese Art von immersivem Unterricht zu geringen Kosten hoch skalierbar ist. Im Rahmen von zwei Feldstudien wurde Struct-MRT bezüglich der beiden Beispielapplikationen einer Stahlbetonkonsole sowie eines Torsionsbalkens im Einsatz in realen Unterrichtssituationen getestet und bewertet, vgl. Abbildung 2 und [1]. Struct-MRT erlaubt den Nutzenden, interaktiv durch die einzelnen Schritte der statischen Berechnung, Bemessung und Bewehrungsführung zu navigieren. Neben der massstabsgetreuen, dreidimensionalen Darstellung der Bauteile werden ergänzende Texte und Formeln dynamisch angezeigt, um den Nachweisprozess zu erläutern. Damit transformieren wir den traditionellen papierbasierten Unterricht in einen immersiven Unterricht, bei dem über mobile Geräte Zugang zu kontextbezogenen visuellen Informationen des Unterrichtsstoffs ermöglicht wird. Komplexe Lehrinhalte der Vorlesungen und Übungen zur statischen Modellbildung oder Konstruktionsdetails können auf diese Weise zusammen mit der konstruktiven, normgerechten Bemessung spielerisch veranschaulicht und erlebt werden. Schliesslich wird mit Struct-MRT ein studierendenzentrierter Ansatz ermöglicht, der individualisiertes und selbstmotiviertes Lernen ermöglicht.

Struct-MRT Workflow einer Übung und Anwendungsbeispiel

Die Interaktionen der Nutzer mit Struct-MRT Applikationen sind in Abbildung 3 (links) als Sequenzdiagramm dargestellt. Während einer Vorlesung können die Studierenden auf die zusätzlichen Inhalte eines Aufgabenblattes zugreifen, indem sie mit ihrem mobilen Gerät (iPhone/iPad) einen QR-Code über die eingebauten Kameras scannen. Wenn sie dann die App auf ihrem Endgerät öffnen, werden computergenerierte 3D-Inhalte einschliesslich Multimedia (z.B. Bilder oder Formeln) angezeigt (vgl. Abbildung 2 und 3). Die Ansichten der entwickelten Anwendungen sind im Vollbildmodus angelegt und unterstützen sowohl die Ausrichtung im Hoch- als auch im Querformat. Zusätzliche grafische Interaktionswidgets werden je nach den Besonderheiten des Einsatzbeispiels entlang des 3D-Inhalts platziert.

Abbildung 3: (links) Sequenzdiagramm des entwickelten Struct-MRT Workflows; (mitte) verfügbare AR Applikationen für das Beispiel des Torsionsbalkens [1]; (rechts) FEM Spannungen in AR

Konkret wurde im vergangenen Herbstsemester eine Übung zur Bemessung und konstruktiven Durchbildung eines Torsionsträgers mit AR Apps angereichert. Die Studierenden konnten neben den papierbasierten Unterlagen sechs AR Applikationen (vgl. Abbildung 3 (Mitte)) parallel dazu nutzen, um räumliche Eindrücke bezüglich der Geometrie des Trägers, der Modellbildung mit Fachwerken oder Spannungs- und Verformungsergebnisse der Finite-Elemente-Methode zu erhalten und in immersiver Weise damit zu interagieren. Nach der Übung wurden die ca. 40 Teilnehmer dieser Feldstudie (Panel) mithilfe eines umfassenden Fragebogens hinsichtlich folgender Ziele befragt:

  1. Ermittlung der Benutzerfreundlichkeit, des Eindrucks und der Interaktivität.
  2. Ermittlung des Potentials und der Akzeptanz des Einsatzes von XR in der Ingenieurausbildung und Wissensvermittlung unter den Studienteilnehmern.
  3. Identifikation möglicher Defizite und Verbesserungspotenziale der MR-Apps.
  4. Identifikation weiterer geeigneter Anwendungsfälle der MR-Apps.

Im Rahmen der Umfrage wurden folgende Hypothesen getestet:

  • H1: Die Vorteile von Mixed Reality sind für die Studierenden leicht zu erfassen
  • H2: Der Umgang mit Mixed Reality-Technologien und -Tools ist für Studierende leicht zu erlernen.
  • H3: Die Studierenden erkennen die Vorteile von Mixed Reality-Technologien für Lehre und Unterricht.
  • H4: Die Studierenden haben Spass an der Arbeit mit Mixed Reality-Technologien und -Werkzeugen

Statistische Hypothesentests zeigen, dass alle vier Hypothesen als zutreffend angesehen werden können. Diese Ergebnisse stützen die Kernannahme der Autoren für den Einsatz von XR in der Lehre: Die die Darstellung von kontextbezogenen 3D-Modellen zur Veranschaulichung der Inhalte ist ein gewinnbringender Ansatz in der Lehre.

Die Studie lieferte weitere Erkenntnisse über die Anwendungsfälle von XR im Bauingenieurwesen. Die grössten Vorteile von XR Applikationen sieht das Panel eindeutig im konstruktiven Ingenieurbau, gefolgt von Bau- bzw. Infrastrukturmanagement. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Wahrnehmung und das Verständnis besonders komplexer Struktursysteme mit aufwendigen Entwurfs- und Bemessungsaufgaben durch XR stark unterstützt werden kann. Das Panel gab zudem Hinweise auf weitere unterstützende Funktionalitäten, mit denen künftige Versionen von Struct-MRT Workflows und Applikationen ausgestattet werden können. Weitere Erkenntnisse und statistische Auswertungen dieser Studie können [4] entnommen werden.

Fazit und weitere zukünftige Möglichkeiten

Die Ergebnisse unserer Pilotstudien zeigen zusammenfassend, dass Methoden der Erweiterten Realität im Studien- und Lehralltag noch nicht ausreichend angekommen ist, sich jedoch das Bild einer breiten Akzeptanz dieser Technologie unter Studierenden des Bauingenieurwesens an der ETH Zürich abzeichnet. Die entwickelten Applikationen bieten durch den interaktiven Arbeitsbereich bessere Unterstützung des Lernprozesses und fördern die Interaktion der Studierenden mit den Kursinhalten durch die Immersion in multimedial gestützte Lernumgebungen. Neben dem potenziell transformativen Mehrwert von Erweiterter Realität in der Massivbau-Lehre gaben die Umfragen gleichzeitig einen Einblick in die technologischen, organisatorischen und kognitiven Herausforderungen des Einsatzes in Lehre und Studium. Die Entwicklung und Einführung von Anwendungen aus dem Bereich der Erweiterten Realität ergänzt unser Angebot an digitalen Lernapplikationen und bietet insbesondere Möglichkeiten zu immersiven Lernerlebnissen während der Vorlesung und in den Übungen. Gerne laden wir Sie ein, unsere Applikationen via [1]selbst zu erkunden.

Danksagung

Ein grosser Dank gilt allen Beteiligten, welche zur Umsetzung der Applikationen beigetragen haben und natürlich allen Teilnehmenden der begleitenden Feldstudien.

Projektverantwortliche:              Prof. Dr. Walter Kaufmann, Dr. Michael A. Kraus

Applikationen:                          Irfan Čustović

Beutreuung Tutorien:                Simon Karrer

Links

Sammlung aller Stahlbeton-Lernapplikationen:               https://concrete.ethz.ch/applikationen/

Literatur:

[1] https://concrete.ethz.ch/blog/lernen-zu-lernen-digitale-lernapplikationen-in-der-stahlbeton-vorlesung/

[2] Milgram, P., & Colquhoun, H. (1999). A Taxonomy of Real and Virtual World Display Integration. Mixed Reality, 5–30.

[3] Osorto Carrasco, M. D., & Chen, P. H. (2021). Application of mixed reality for improving architectural design comprehension effectiveness. Automation in Construction, 126(March).

[4] Kraus, M., Custovic, I., & Kaufmann, W. (2021). Struct-MRT: Immersive Learning and Teaching of Design and Verification in Structural Civil Engineering using Mixed Reality. arXiv preprint arXiv:2109.09489.

[5] Sampaio, A. Z., & Martins, O. P. (2014). The application of virtual reality technology in the construction of bridge: The cantilever and incremental launching methods. Automation in Construction, 37, 58–67. https://doi.org/10.1016/j.autcon.2013.10.015

[6] Shirazi, A., & Behzadan, A. H. (2015a). Content delivery using augmented reality to enhance students’ performance in a building design and assembly project. Advances in Engineering Education, 4(3), 1–24.


Michael Anton Kraus


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