Einrichtung einer hochschulübergreifenden Gruppe für Forschung und Lehre im Bereich des konstruktiven Mauerwerkbaus

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Link to the English version: Establishment of an inter-university research and teaching group in the field of structural masonry.


Lehre und Forschung im Bereich des konstruktiven Mauerwerkbaus haben am Institut für Baustatik und Konstruktion der ETHZ eine langjährige Tradition. Diverse Pionierarbeiten zur Beschreibung des Tragverhaltens von Mauerwerk und wegweisende experimentelle Untersuchungen an Mauerwerksbauteilen wurden ab den 70er Jahren unter der Leitung von Prof. Dr. Bruno Thürlimann und seinem Nachfolger Prof. Dr. Peter Marti durchgeführt. Diese bahnbrechenden Arbeiten fanden in der Wissenschaft einen breiten Anklang und liefern die Grundlagen für die heutige Bemessungsnorm SIA 266 und wurden an der ETHZ durch Dr. Nebojsa Mojsilovic und Prof. Dr. Joseph Schwartz fortgeführt . Die Emeritierung von Prof. Schwartz Anfang 2023 und die anstehende Pensionierung von Dr. Mojsilovic im Jahre 2025 veranlassten die Ziegelindustrie Schweiz (Weblink), eine Anschlusslösung zur Weiterführung von Lehre und Forschung im Bereich des konstruktiven Mauerwerkbaus zu finden.

Abbildung 1: Wegweisende Forschung an der ETHZ im Bereich des konstruktiven Mauerwerkbaus: (a) Zweiaxial beanspruchte Elementversuche mit geneigten Lagerfugen (aus Ganz/Thürlimann, 1982); (b) Bruchbedingungen für eben beanspruchtes Mauerwerk basierend auf der Plastizitätstheorie (aus Ganz, 1985); (c) Entwicklung von ideal plastischen Spannungsfeldern (aus Ganz, 1985).

Etablierung einer hochschulübergreifenden Mauerwerksgruppe

Über Prof. Dr. Walter Kaufmann (Leiter der Professur für Massiv- und Brückenbau) bekam ich die Anfrage, ob ich künftig die Lehr- und Forschungstätigkeiten im Bereich des konstruktiven Mauerwerkbaus übernehmen möchte. In einigen Gesprächen mit der Ziegelindustrie Schweiz entwickelte sich schliesslich die Idee einer hochschulübergreifenden Mauerwerksgruppe, die ich ab diesem Sommer an der Professur für Massiv- und Brückenbau (Weblink) der ETHZ und am Institut für Bauingenieurwesen (IBI) der Hochschule Luzern Technik und Architektur (HSLU T&A) leiten darf. Die Mauerwerksgruppe wird durch eine grosszügige Donation der Ziegelindustrie Schweiz unterstützt, wobei die Vereinbarung – gemäss unseren akademischen Prinzipien – festhält, dass die Freiheit von Forschung und Lehre jederzeit gewährleistet ist. Bis zu seiner Pensionierung wird Dr. Mojsilovic die Mauerwerksgruppe mit seiner Expertise unterstützen, was sehr wertvoll ist und die Kontinuität gewährleistet.

Faszination Mauerwerk – eine uralte Bauweise in der modernen Welt

Seit meiner Studienzeit begleitet mich der Werkstoff Mauerwerk in verschiedenen Lehr- und Forschungstätigkeiten, die ich insbesondere während meines Doktorates am Institut für Werkstoffe im Bauwesen (IWB) der Universität Stuttgart bearbeitete (Publikationsliste siehe hier). Neben zahlreichen analytischen und experimentellen Untersuchungen  galt meine Faszination der Beschreibung und Analyse des Tragverhaltens von Mauerwerk und Mischtragwerken (Mauerwerk/Stahlbeton) mit modernen Simulationstools – oder etwas fachtechnischer ausgedrückt, der Entwicklung von mechanisch konsistenten Modellvorstellungen und deren Implementierung in numerische Verfahren (z.B. lineare/nichtlineare Finite Elemente → siehe Blogbeitrag vom Jahre 2022). Zudem kam ich immer wieder in den Genuss, innerhalb von Lehrveranstaltungen und der Betreuung von Studierendenarbeiten das Wissen weiterzugeben.

Abbildung 2: Ausgewählte eigene Forschung im Bereich des konstruktiven Mauerwerkbaus: (a) Monotone und semizyklische Elementversuche mit geneigten Lagerfugen (aus Weber/Sharma/Hofmann, 2019); (b) Microplane-Modellierung mithilfe von MASA (aus Weber/Hahn/Sharma, 2018); (c) Nichtlineares Werkstoffgesetz (URM-Usermat) basierend auf erweiterten Bruchbedingungen von Ganz; (d) NLFE-Berechnung eines Mauerwerkgebäudes mithilfe des URM-Usermat; (e) und (f) NLFE-Analyse der Versuche von Beyer et al, 2015 an Mischtragwerken aus Mauerwerk und Stahlbeton mithilfe des URM-Usermat für Mauerwerk bzw. des CMM-Usermat für Stahlbeton (Bilder (c) bis (f) aus Weber, 2019).

Obwohl sich die Mauerwerksbauweise1Heutzutage steht allerdings eine breite Palette von Hochleistungssteinen zur Verfügung, die je nach statischen, bauphysikalischen und ästhetischen Anforderungen verwendet werden. über Jahrtausende entwickelte, hat sich das Grundprinzip (das Aufeinanderschichten von Steinen2Heutzutage steht allerdings eine breite Palette von Hochleistungssteinen zur Verfügung, die je nach statischen, bauphysikalischen und ästhetischen Anforderungen verwendet werden.) über die kulturhistorischen Zivilisationen kaum verändert – die Art und Weise zur Analyse, Untersuchung und Berechnung jedoch radikal. Während bereits in der Antike die Römer und Griechen die selbsttragende Form von Mauerwerksgewölben erkannt hatten, beschäftigten sich in der Renaissance erste Gelehrte systematisch mit der Frage nach einer dem Kräfteverlauf angepassten Bogenform, woraus sich später die Stützlinie entwickelte – d.h. die mathematische Beschreibung der Linie in einem Bogen, entlang welcher die aus der Belastung entstehenden, zusammengefassten Druckkräfte verlaufen (vgl. Abbildung 3 (a)). Diese physikalischen Grundprinzip des Kräfteabtrages über Druckstreben macht man sich für die rechnerische Beurteilung von Mauerwerksbauten noch heute zunutze, beispielsweise bei der Überprüfung von Bogenbrücken aus Mauerwerk mittels graphischer Statik oder bei der Bemessung von herkömmlichen Mauerwerkswänden auf Basis von ideal plastischen Druckspannungsfeldern gemäss der SIA Norm 266 (vgl. Abbildung 3 (b)). Die Methodik zur Berechnung des Kräfteverlaufes und der Traglasten hat sich jedoch durch die digitale Revolution in den letzten Jahren elementar verändert. Aufwendige Rechen- und Routineaufgaben werden effizient vom Computern übernommen – die Kunst und das Wissen der baustatischen und physikalischen Grundlagen sind jedoch nicht überflüssig, sondern im Gegenteil für die Resultatinterpretation unabdingbar (und anspruchsvoller denn je!). Bereits herkömmliche Computer verfügen über genügend Rechenpower für die Verwendung von verfeinerten (z.B. nichtlinearen) Materialmodellen, womit “automatisert”3“automatisiert” bezieht sich auf den eigentlichen Berechnungs- und Optimierungsprozess des Computers. Die Anwendung, Interpretation und Verifizierung solcher verfeinerten Modellvorstellung (allen voran die nichtlineare Finite Elemente Methode) ist jedoch äusserst zeitaufwendig und verlangt ein hohes Mass an Fachkompetenz. der Kräfteverlauf berechnet werden kann (vgl. Abbildung 3 (c)) und Aussagen zum Last-Verformungsverhalten, der Rissbildung und der damit einhergehenden Schnittkraftumlagerung möglich sind (z.B. mit dem während meiner Dissertation entwickelten URM-Usermat für die nichtlineare Finite Element Analyse von allgemein beanspruchten4Unter einer allgemeinen Beanspruchung wird die Kombination aus Scheiben- und Plattentragwirkung verstanden. Mauerwerksbauteilen). Vor dieser Entwicklung darf auch die Ausbildung und Forschung im Bereich des konstruktiven Mauerwerkbaus nicht halt machen – die konsequente Anwendung des Gleichgewichts und mechanischer Grundprinzipien ist jedoch entscheidend (oder besser gesagt zwingend) für deren Erfolg.

Abbildung 3: Grundprinzip des Kräfteabtrags im Mauerwerk durch Druckstreben: (a) Schnitt durch die von Giacomo della Porta entworfene Kup­pel des Petersdoms, Rom, 1547-1590 und Analyse des Tragverhaltens von Giovanni Poleni mittels grafischer Statik und dualem Seil, 1748 (aus Schwartz, 2011); (b) Bemessung von Mauerwerksscheiben mittels ideal-plastischen Spannungsfeldern gemäss der SIA Norm 266; (c) Druckspannungsfeld berechnet auf Basis einer FE-Analyse mithilfe des URM-Usermat (aus Weber, 2019).

Forschung, Lehre und Praxis verbinden

Eine zentrale Aufgabe der Mauerwerksgruppe sind die Lehr- und Forschungstätigkeiten im Bereich des konstruktiven Mauerwerkbaus, die gleichzeitig an der Professur für Massiv- und Brückenbau der ETHZ und dem IBI der HSLU T&A etabliert werden. Im Fokus steht dabei insbesondere die Förderung und Entwicklung von numerischen Simulationstools für die Lösung von Problemstellungen aus der Praxis.

Forschungsschwerpunkt ist dabei die Entwicklung von  mechanisch konsistenten Materialmodellen und deren Implementierung in die an der Professur für Massiv- und Brückenbau entwickelten  Software- und Analysetools – wie z.B. der aktuell in Entwicklung stehenden Open-Source-Toolbox StrucEng Library (mehr dazu im Blogbeitrag aus dem Jahr 2022). Die Tools zielen drauf ab, neue Tragwerke effizienter zu entwerfen sowie Traglastreserven bestehender Tragwerke zur Minimierung von Verstärkungsmassnahmen zu identifizieren, ohne dabei die Tragsicherheit und Robustheit zu gefährden. Als Grundlage für die Entwicklung und Validierung der Materialmodelle führen wir experimentelle Untersuchungen zum Tragverhalten von Mauerwerk durch. Dazu steht unter anderem der weltweit einzigartige Large Universal Shell Element Tester (LUSET) an der Professur für Massiv- und Brückenbau der ETHZ zur Verfügung, mit dem wir das Tragverhalten von allgemein beanspruchten Schalenelementen aus Mauerwerk erstmalig experimentell untersuchen können (vgl. Abbildung 4 (b)).

Des Weiteren widmen wir uns offenen Fragestellungen zum mechanischen Tragverhalten im Bereich des konstruktiven Mauerwerkbaus, die noch nicht vollständig geklärt sind. Dazu gehören z.B. die Frage nach den Anwendungsgrenzen ideal plastischer Berechnungsmethoden  (ein “ausreichendes” Verformungsmögen wird dabei vorausgesetzt) auf den Werkstoff Mauerwerk mit seinem bekanntlich stark eingeschränkten Verformungsvermögen oder dem Tragverhalten von Mischsystemen aus Mauerwerk und Stahlbeton (z.B. Lastverteilung durch die Stahlbetonplatten, Mitwirkung von Stahlbetonscheiben, Einfluss von Sturz- und Brüstungselementen). Zur Beantwortung solcher Fragestellungen kombinieren wir die numerischen Tools und mechanischen Modellvorstellungen mit grossmassstäblichen Versuchen, mit dem Ziel, entsprechende Bemessungsmodelle oder Entwurfskriterien mit direktem Nutzen für die Baupraxis abzuleiten. Im Zentrum steht dabei immer die konsequente Anwendung mechanisch konsistenter Modelle.

In Zukunft werden wir uns zudem vermehrt mit der Anwendung und Eingliederung der Softwaretools in den digitalen Planungs-, Fertigungs-, und Erhaltungsprozess von Tragwerken beschäftigen und an neuen innovativen Lösungen für digital (vor)fabrizierte Mauerwerksbauteilen forschen.

Abbildung 4: Open source Toolbox StrucEng Library für die Analyse von Tragstrukturen aus Stahlbeton und Mauerwerk (links) und Large Universal Shell Element Tester (LUSET) der Professur für Massiv- und Brückenbau (rechts).

Ein zentrales Anliegen der Mauerwerksgruppe ist zudem die Sicherstellung des Transfers der Forschungsergebnisse und die Vermittlung des Fachwissens im Bereich des konstruktiven Mauerwerkbaus in die Baupraxis. Dazu gehört einerseits die künftige Bereitstellung der StrucEng Library als Open-Source-Toolbox für die freie Verwendung in der Baupraxis. Anderseits führen wir Lehrveranstaltungen an der ETHZ und HSLU durch, wobei wir Bauingenieurinnen und Bauingenieure in den Bereichen Bemessung, Entwurf und Überprüfung von Mauerwerksbauten ausbilden und im Umgang mit computerunterstützten Berechnungsmethoden sensibilisieren. Des Weiteren engagieren wir uns in Berufsverbänden und Normkommissionen, wie z.B. der Fachgruppe für die Erhaltung von Bauwerken (FEB) der SIA (Weblink) und der Normkommission SIA 266 (Weblink) und arbeiten eng mit der Industrie an nachhaltigen Lösungen für die Baupraxis.

Last but not least soll die Mauerwerksgruppe eine Plattform für den Austausch und die Diskussion im Bereich des konstruktiven Mauerwerkbaus sein, und wir laden sie daher ein, gemeinsam an den Lösungen heutiger und künftiger Herausforderungen unserer Gesellschaft zu arbeiten. Wir freuen uns, die Zukunft des Werkstoffes Mauerwerk aktiv mitgestallten zu können und danken der Ziegelindustrie Schweiz für die wertvolle Unterstützung. Let’s give masonry a new shine!


Marius Weber