Einfluss der Querbiegung auf den Schubwiderstand von Betonbrücken

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Der Titel dieses Blogeintrags ist die komprimiert möglichste Beschreibung dessen, was mich in den letzten fünf Jahren beschäftigt hat. Im vergangenen Dezember habe ich meine Dissertation zu diesem Thema erfolgreich verteidigt, die ich unter der Leitung von Prof. Dr. W. Kaufmann erarbeitet habe. In diesem Beitrag werde ich versuchen, Ihnen eine etwas weniger komprimierte Version des Inhalts der Arbeit zu geben, indem ich Antworten auf die folgenden Fragen gebe.

Was ist das Problem und warum ist es relevant?

Der Grund dafür, dass wir im Jahr 2021 immer noch über einen Lastfall diskutieren, für den es Normenvorschriften gibt, hängt mit der Tatsache zusammen, dass die entwickelten Länder heute mit der Herausforderung einer alternden Infrastruktur konfrontiert sind. Um ihre Tragsicherheit zu gewährleisten, müssen viele Infrastrukturobjekte neu überprüft werden, da sowohl die Verkehrsintensität als auch die Verkehrslasten seit ihrer Errichtung zugenommen haben. Die aktuellen Bemessungsvorschriften und -richtlinien beruhen auf früheren Untersuchungen und deren zugehörigen Modellen, die mit dem Ziel konzipiert wurden, neue Bauwerke sicher zu bemessen. Sie sind daher konservativ und enthalten Reserven. Das Vorsehen gewisser Traglastreserven ist beim Entwurf neuer Bauwerke sicherlich angebracht ist, da es in der Regel mit einer Erhöhung der Robustheit und Redundanz bei geringen zusätzlichen Kosten einhergeht. Dies gilt indes nicht für bestehende Tragwerke.

Wie im Titel angedeutet, ist einer der zu beurteilenden Lastfälle die Kombination von Längsschub und Querbiegung. Es ist klar, dass die Belastung eines Brückenträgers Längsbiegung und damit Längsschub – also eine Beanspruchung durch in der Ebene des Stegs wirkende Kräfte – verursacht. Gleichzeitig müssen die auf die Fahrbahn aufgebrachten Lasten aber auch in Querrichtung abgetragen und in den Längsträger eingeleitet werden, was zu einer Biegebeanspruchung im Querschnitt führt. Da der Steg monolithisch mit der Fahrbahnplatte verbunden ist, nimmt er einen grossen Teil des Biegemoments auf, das er zusätzlich zu den in der Ebene wirkenden Schubkräften aufnehmen muss.

Welche Modelle gibt es, und warum war zusätzliche Forschung notwendig?

Eine Gruppe von Ansätzen, die als starr-ideal plastische Modelle klassifiziert werden können, machen sich zunutze, dass Krümmungen um die Vertikalachse und/oder Verdrillungen des Stegelements durch die Fahrbahnplatte, die untere Kastenplatte und benachbarte Stegelemente, sowie zusätzlich durch allfällige Querscheiben oder -träger behindert werden. Anstelle der zugehörigen sogenannten verallgemeinerten Spannungen des Stegelements treten somit verallgemeinerte Reaktionen auf, die einen beliebigen Wert annehmen, der den Tragwiderstand in Funktion der verbleibenden verallgemeinerten Spannungen maximiert.

Die Tatsache, dass das Drillmoment und das Biegemoment um die vertikale Achse beliebige Werte annehmen können, ermöglicht eine seitliche Verschiebung des Druckfeldes, das für die Übertragung des Längsschubes verantwortlich ist, zur Biegedruckseite. Dadurch können die Bügel auf der Biegezugseite fast vollständig für die Übertragung des Biegemoments genutzt werden, was zu einer deutlichen Erhöhung des Tragwiderstands führt.

Diese starr-ideal plastischen Modelle haben das Potenzial, gute Abschätzungen der Tragfähigkeit des Stegs zu liefern. Ihre Anwendbarkeit auf Bauteile mit sehr geringem Bügelbewehrungsgehalt ist jedoch eingeschränkt, da die ihnen zugrunde liegende Annahme eines ausreichenden Verformungsvermögens in diesen Fällen ohne expliziten Nachweis nicht erfüllt ist.

Darüber hinaus wurden diese Modelle anhand einer sehr begrenzten Anzahl von Versuchen validiert. Infolgedessen wurde die zweite grundlegende Annahme, nämlich dass eine seitliche Verschiebung des Druckfeldes durch die kinematischen Randbedingungen des Stegs ermöglicht wird, nie experimentell verifiziert.

Weiter gilt es die Tatsache zu beachten, dass die Querbiegemomente im Steg nicht a priori bekannt sind, sondern von der Steifigkeit des Stegs relativ zur Fahrbahnplatte abhängen. Auch dieser Effekt ist bisher weder theoretisch noch experimentell untersucht worden. Wenn der Steg ein ausreichendes Verformungsvermögen aufweist (d.h. nicht vorzeitig versagt, sondern allmählich seine Biegesteifigkeit verliert), können Querbiegemomente aus exzentrischen Verkehrslasten vom Steg zur Fahrbahnplatte umgelagert und Querbiegemomente aus der Verformung des Querschnitts reduziert  werden (einhergehend mit einer Zunahme der Wölbtorsion).

Wie wurden die Wissenslücken geschlossen?

Die Wissenslücken wurden durch die Durchführung von Grossversuchen im Large Universal Shell Element Tester an ebenen Schalenelementen, die isolierte Stegelemente einer Hohlkastenbrücke darstellten, geschlossen. Der Large Universal Shell Element Tester ist eine Versuchseinrichtung, die von zwei Testanlagen an der Universität Toronto inspiriert ist, und deren Fähigkeiten kombiniert. Er ermöglicht die Durchführung von Grossversuchen an Stahlbetonschalenelementen mit Abmessungen von 2 m x 2 m und einer variablen Dicke. Der Aufbau erlaubt das Aufbringen kontrollierter, beliebiger Lastkombinationen an den vier Rändern des Versuchskörpers (8 unabhängige Spannungsresultierende oder aufgezwungene Verformungen) mit Hilfe von 100 hydraulischen Pressen (siehe Kaufmann et al. 2019 and LUSET).

Es wurden insgesamt 10 Versuche an orthogonal bewehrten Stahlbetonschalenelementen durchgeführt. Die Prüfkörper, die einen Teil eines Hohlkastenstegs darstellten, wurden verschiedenen Kombinationen aus homogener Belastung und aufgezwungenen Verformungen unterworfen. Diese Lastkombinationen waren so definiert, dass die dem Steg durch die gesamte Brückenkonstruktion vorgegebenen Randbedingungen angemessen berücksichtigt wurden. Zu den untersuchten Parametern gehörten der Bewehrungsgehalt, die kinematischen Restriktionen und die Belastungsreihenfolge. Um die Auswirkung der Steifigkeitsabnahme des Stegs auf die Querbiegemomentenverteilung zu untersuchen, wurde auch ein sogenannter Hybridversuch durchgeführt. Bei diesem Test bildete ein Finite-Elemente-Modell, das kontinuierlich mit der tatsächlichen Biegesteifigkeit des physischen Prüfkörpers aktualisiert wurde, das globale Verhalten des Brückenquerschnitts ab, und beeinflusste dementsprechend die aufzubringende Last.

Was waren die wichtigsten experimentellen Ergebnisse?

Die Ergebnisse der Versuchsreihe bestätigten die Annahme der meisten existierenden starr-ideal plastischen Modelle, dass sich das für die Übertragung der Querkraft in Längsrichtung wirksame Druckfeld tatsächlich seitlich in Richtung der Biegedruckseite des Stegs verschiebt. Die auf das verschobene Druckfeld einwirkende Biegedruckkraft wirkt sich, zusammen mit den insgesamt auf den Steg einwirkenden verallgemeinerten Reaktionen, günstig auf dien Tragwiderstand des Steges unter kombinierter Beanspruchung aus. Die massgebende Versagensart bei Elementen mit sehr geringem Bügelbewehrungsgehalt war in allen Versuchen das Reissen der Bügelbewehrung. Dieser spröde Versagensmodus, der vor einer signifikanten Ausnutzung des Betons auf Druck eintrat, schränkt die Anwendbarkeit von Modellen ein, die nicht explizit das Verformungsvermögen überprüfen. Die experimentellen Ergebnisse unterstreichen damit die Bedeutung des Vergleichs von Verformungsbedarf und Verformungsvermögen bei der Beurteilung von Bauteilen mit sehr niedrigem Bügelbewehrungsgehalt.

Der durchgeführte Hybridversuch, der das Systemverhalten berücksichtigte, bestätigte den günstigen Einfluss einer Umlagerung der Biegemomente in einem Kastenträger auf den Tragwiderstand des Stegs bei kombinierter Längsschub- und Querbiegebeanspruchung. Diese Aussage gilt jedoch unter der der Voraussetzung, dass alle angrenzenden Bauteile (die Fahrbahnplatte und die untere Kastenplatte) eine ausreichende Tragreserve aufweisen, um die dadurch resultierende, zusätzliche Belastung aufnehmen zu können. Durch die Berücksichtigung des Systemverhaltens bei der Beurteilung bestehender Brücken kann daher der Umfang der erforderlichen Verstärkungsmassnahmen allenfalls reduziert werden. Falls Verstärkungsmassnahmen dennoch als notwendig erachtet werden, ist eine Erhöhung der Steifigkeit der Fahrbahnplatte anderen, deutlich aufwändigeren Verstärkungsmassnahmen vorzuziehen.

Wie können bestehende Methoden um eine Überprüfung des Verformungsvermögens erweitert werden (unter Beibehaltung ihrer Einfachheit)?

Die Erweiterung bestehender Modelle zum Nachweis des Verformungsvermögens erfordert die Berücksichtigung komplizierterer Ansätze zur Modellierung des Verhaltens von Beton und Bewehrung (insbesondere Druckentfestigung und Zugversteifung). Dies führt dazu, dass ihre Formulierungen stark nichtlinear werden und daher komplexe iterative Algorithmen zur Lösung erforderlich sind. Um ein vereinfachtes Verfahren zur Bestimmung des Tragwiderstands zu erhalten und gleichzeitig die Grenzen des Verformungsvermögens zu berücksichtigen, wurde ein grafischer Ansatz entwickelt. Dieser nutzt die in den Versuchen beobachtete Tatsache, dass Stege mit sehr kleinem Bügelbewehrungsgehalt infolge Reissen der Bügel versagen, um das Problem auf zwei kinematische Unbekannte zu reduzieren. Man erhält eine Abschätzung des Querbiegewiderstands und der zugehörigen Verformung, indem der Schnittpunkt des Lösungsraums mit den Zielwerten für die aufgebrachte Längsschubbeanspruchung grafisch bestimmt wird. Neben der Ermittlung der Bruchlast kann die Methode auch für die Untersuchung des Systemverhaltens verwendet werden, da sie die Berechnung vereinfachter bilinearer Momenten-Krümmungs-Diagramme des Stegs bei gegebenem Längsschub ermöglicht.

Was ist die wichtigste Erkenntnis für Ingenieure in der Praxis?

Bei der Überprüfung bestehender Tragwerke wird sehr viel Wert auf die maximale Ausnutzung der vorhandenen Tragwiderstands gelegt. Im Falle einer kombinierten Beanspruchung von Längsschub und Querbiegung ist es zur Vermeidung unnötiger Verstärkungsmassnahmen jedoch in vielen Fällen erfolgversprechender, das auf den Steg wirkende Querbiegemoment möglichst realistisch abzuschätzen. Dies gilt insbesondere verglichen mit der maximalen Ausnutzung vorhandener Traglastreserven ohne Berücksichtigung einer Lastumlagerung. Daher wird eine detailliertere Untersuchung des Systemverhaltens unter Berücksichtigung der Steifigkeitsabnahme im Steg bei zunehmender Belastung empfohlen.