Link to English version: The way to the automatic crack measurement in experiments on the load-bearing behaviour of concrete
Vor knapp fünf Jahren konnte ich im Rahmen einer Master-Projektarbeit erste Methoden für ein Rissmessungs-Tool zur Auswertung von Betonversuchen entwickeln. Das Ziel dabei war, aus den Messungen der Oberflächenverformung, die durch digitale Bildkorrelation gewonnen werden, automatisch Risse zu erkennen und deren Weite und Schiebung zu messen. Meine Betreuer Prof. Dr. Walter Kaufmann und Dr. Jaime Mata-Falcón hatten zu diesem Zeitpunkt bereits erste Ideen und Konzepte ausgearbeitet und auch einige Testdaten standen zur Verfügung. Nach Abschluss der Projektarbeit wurde das Tool stetig weiterentwickelt und vermehrt auch zur Auswertung unserer Versuche angewendet. Dabei zeigte sich das grosse Potential des Verfahrens, sodass es heute als Open-Source-Software unter dem Namen ACDM (für «automated crack detection and measurement») frei zur Verfügung steht. Die Benutzeroberfläche bietet eine einfache Anwendung, so dass auch bereits andere Forschungsinstitute auf dieses Tool zurückgreifen. In diesem Blogbeitrag geht es um den Weg zum heutigen ACDM, dessen Bedeutung in der experimentellen Forschung sowie um die wichtigsten Elemente, die dem Tool zum Durchbruch verhalfen.
Weshalb sind Rissmessungen in Versuchen so wichtig?
Um das Tragverhalten von Betonelementen besser zu verstehen und Modelle weiterentwickeln und validieren zu können, sind Belastungsversuche nötig, bei welchen das Rissverhalten genau erfasst wird. So ist zum Beispiel die Schubkraft, die über Risse übertragen werden kann, stark von der Unebenheit der Rissflächen und der Rissweite abhängig. Solche Grössen müssen genau erfasst werden, um Rissverzahnungsmodelle validieren zu können. Oftmals sind auch grossmassstäbliche Versuche notwendig, um Resultate zu erhalten, die repräsentativ für reale Tragwerke sind. Solche Grossversuche sind aber sehr aufwendig in der Durchführung und weisen im Allgemeinen ein komplexes Rissmuster auf, wobei die exakten Rissstellen nicht vorausgesagt werden können. Es wurden bereits verschiedene Messsysteme zum Messen von Rissen entwickelt, die aber in Ihrer Anwendbarkeit oftmals stark eingeschränkt sind. Das liegt hauptsächlich daran, dass die Auflösung und Genauigkeiten bezüglich der gemessen Risskinematiken, bestehend aus der Rissweite und –schiebung, meistens nicht ausreichen, um verlässliche Aussagen über das tatsächliche Trag- und Verformungsverhalten des Materials zu treffen. Das genaue Messen von Rissen mit einer hohen Auflösung ist deshalb zentral, stellt aber eine grosse Herausforderung dar.
Wie wurden Risse bis anhin gemessen?
Das bis vor einiger Zeit übliche Verfahren zur Messung von Rissen an Experimenten bestand darin, den Versuch an ausgewählten Last- oder Verformungszuständen zwischenzeitlich zu stoppen und relevante Rissbreiten von Hand durch Risslineale oder mit Risslupen direkt an der Versuchsoberfläche zu messen. Dieses manuelle Messverfahren ist aber anfällig für Messfehler und zudem sehr aufwendig, insbesondere bei Grossversuchen mit einer Vielzahl von Rissen. Ausserdem fehlen bei Elementen mit geringer Verformungskapazität in der Regel relevante Messungen nahe der Versagenslast aufgrund des damit verbundenen Risikos hinsichtlich der Sicherheit für das Personal.
Alternative Messverfahren – wie z.B. die Verwendung von DEMEC, NDI oder LVDTs («linear variable differential transformers») – verbessern die Genauigkeit der Rissmessungen sowie die zeitliche Auflösung, sind jedoch weiterhin beschränkt auf wenige vordefinierte Rissstellen und deshalb auch kaum oder nur schwer anwendbar auf komplexe Rissmuster, bei welchen die genauen Rissstellen in der Regel nicht vorausgesagt werden können.
Welche Vorzüge bietet digitale Bildkorrelation (DIC)?
Unter digitaler Bildkorrelation (bekannt als DIC für «digital image correlation») versteht man ein kamerabasiertes Verformungsmessverfahren von Oberflächen, bei welchem die Verformung eines aus zufälligen Punkten bestehenden Oberflächenmusters durch Korrelationsalgorithmen gemessen wird. Aus den dabei gewonnenen vollflächigen und hochpräzisen Verschiebungsmessung können mit relativ einfachen Verfahren auch Oberflächendehnungen des Bauteils berechnet werden. Gegenüber herkömmlichen Messverfahren liefert DIC quasi-kontinuierlichen Messungen (räumlich und zeitlich), und eröffnet so neue Möglichkeiten zur sehr detaillierten und verlässlichen Erfassung des Rissverhaltens in Laborversuchen.
Zwar wird DIC bereits in vielen Forschungsinstitutionen zur Messung von Rissöffnungen und –schiebungen verwendet, jedoch werden die Resultate meistens nur an wenigen diskreten Stellen mittels manuell gesetzten Extensometern ermittelt, was zu Folge hat, das viele wertvolle Informationen verloren gehen. Solche manuelle Verfahren sind auch kaum anwendbar auf Grossversuche mit komplexen Rissmuster. Die in Grossversuchen erzeugten DIC Datenmengen sind extrem gross und können daher nur durch automatische Verfahren effizient zu brauchbaren Resultaten weiterverarbeitet werden. Zudem müssen die Rissöffnungen und -schiebungen über virtuelle Referenzpunkte, die etwas von den tatsächlichen Rissufern entfernt sind, bestimmt werden, um verzerrungsfreie Messungen zu erhalten. Das führt dazu, dass schon geringfügige Rotationen des Versuchskörpers berücksichtigt werden müssen (insbesondere für Rissschiebungsmessungen), was das Messverfahren um einiges erschwert. Hier muss jedoch erwähnt werden, dass letzterer Punkt für alle Rissmessverfahren gilt, bei denen Rissuferverschiebungen nicht direkt, sondern über Referenzpunkte, die nur schon geringfügig vom Rissufern entfernt liegen, gemessen werden (also auch für Rissmessungen mittels manueller DIC-Extensometer aber auch z.B. bei der Verwendung von DEMEC, NDI oder LVDTs).
Um DIC effizient zur Erfassung des Rissverhaltens in Betonversuchen einsetzen zu können – was durch andere bekannte Messverfahren nicht mit dieser Genauigkeit und Auflösung möglich wäre – wurden in unserer Forschungsgruppe von einigen Jahren erste Schritte in Richtung des heutigen vollautomatischen DIC-basierten Rissmessungs-Tools «ACDM» unternommen.
Was waren die ersten Schritte bei der Entwicklung von ACDM?
Das Grundkonzept von ACDM bestand von Anfang an darin, die Beziehung, dass die lokale Oberflächenzugdehnung an Rissen theoretisch unendlich gross wird, zu nutzen. Aufgrund der endlichen Auflösung des DIC und der Tatsache, dass das Dehnungsfeld oftmals gefiltert wird, um das Messrauschen zu verringern, resultieren an den Rissen jedoch endliche Zugdehnungen. Die Grösse der berechneten Hauptzugdehnung steht nun im Zusammenhang mit der Risskinematik, also mit der Rissöffnung (Verformung senkrecht zur Rissneigung) und der Rissschiebung (Verformung parallel zur Rissneigung). Somit suchten wir nach einem Verfahren, das Risse an Stellen mit hohen Hauptzugdehnungen extrahiert. Eine erste Lösung bestand darin, Zonen mit hohen Dehnungen zu bestimmen und diese dann durch bewährte morphologische Operationen in Risslinien (als Rissskelett) zu verdünnen.
Die erkannten Risslinien haben gegenüber einzelnen unabhängigen Risspunkten den grossen Vorteil, dass für jeden Risspunkt die lokale Rissneigung berechnet werden kann, die unter anderem für die Bestimmung der Risskinematiken benötigt wird. Die Rissuferverschiebungen wurden in einem ersten Schritt mittels zweier Referenzpunkte (pro Rissufer) berechnet, damit – wie bereits erwähnt – lokale Rotationen des Versuchskörpers berücksichtigt werden konnten.
Wie wurde ACDM zur vollautomatischen Software weiterentwickelt?
Die Methoden wurden von Anfang in eine Benutzeroberfläche integriert, um die Anwendung des Tools zu erleichtern. Bei Versuchen mit einem verhältnismässig einfachen Rissmuster zeigte sich schnell, dass ACDM sehr genaue Resultate zu den Rissorten und den Risskinematiken liefern konnte. Bei komplexeren Rissmuster zeigten sich aber Probleme mit verzerrten Resultaten in Bereichen nahe von Rissverzweigungen, bei welchen das Verfahren versagte. Deshalb wurde in einem nächsten Schritt das Verfahren zur Risserkennung überarbeitet. Anstelle von Zonen mit hohen Dehnungen, die zu Risslinien verdünnt werden, werden in der heutigen Version von ACDM die Risslinien direkt als Kanten im Dehnungsfeld extrahiert. Zudem wurde bei der Berechnung der Risskinematiken die Anzahl von Referenzpunkten erhöht und ein Algorithmus entwickelt, der die Verlässlichkeit der Resultate verbessert.
ACDM steht der Öffentlichkeit unter https://gitlab.ethz.ch/ibk-kfm-public/acdm als Open-Source-Software zur Verfügung. In diversen Experimenten unserer Forschungsgruppe und insbesondere bei unseren Grossversuchen im Large Universal Shell Element Tester (LUSET) wurde ACDM bereits erfolgreich angewendet und konnte so zu relevanten neuen Erkenntnissen zum Tragverhalten von Beton beitragen. Beispielsweise haben Alexander Beck und Demis Karagiannis im Rahmen ihrer kürzlich veröffentlichten Doktorarbeiten 2.0 x 2.0 grosse Scheiben in LUSET getestet, wobei ACDM in der Auswertung der Versuchsresultaten verwendet wurde. Die damit gewonnenen Informationen zum Rissverhalten hatten eine zentrale Bedeutung bei der Entwicklung und Validierung ihrer mechanischen Modelle. Aber auch ausserhalb der ETH fand ACDM anklang und wurde schon in diversen Studien zur Auswertung von Experimenten genutzt.
Rissbild eines Scheibenversuchs in LUSET unter kombinierter Schub- und Biegebeanspruchung. Bildquelle: Karagiannis 2021. Rissbild eines Schubversuchs in LUSET. Bildquelle: Beck 2021.
Damit das auch in Zukunft weiterhin so bleibt, sind wir daran, ACDM laufend zu verbessern. Ein Ziel, das wir zum Beispiel seit längerem verfolgen, ist die Echtzeitmessung von Rissen mittels ACDM, was uns ermöglichen würde, Versuche unter Steuerung von Rissweiten oder Rissschiebungen (was beispielsweise in Versuchen mit faserverstärkten Betonelementen wichtig ist) zu belasten. Weiteres Potential von ACDM sehen wir auch in der Überwachung bestehender Tragwerke zur Früherkennung von Schäden. Entsprechende Untersuchungen sind Gegenstand aktueller Forschung.
Nicola Gehri