Link to English version: How accurate are current models for predicting reinforcement stresses under fatigue loads?
Um die Tragsicherheit von Brücken zu gewährleisten, ist neben dem Nachweis des Tragwiderstands auch der Nachweis der Ermüdungsfestigkeit erforderlich. Der Nachweis des Tragwiderstands ist gut erforscht und die entsprechenden Modelle (Normalmomenten-Fliessbedingung und Sandwich-Modell) sind in der Ingenieurpraxis etabliert. In diesen Modellen wird ein ausreichendes Verformungsvermögen angenommen und der Tragwiderstand unter Berücksichtigung von plastischen Umlagerungen ermittelt. Für den Ermüdungsnachweis und die zugehörige Ermittlung der Bewehrungsspannungen steht der Praxis bislang jedoch kein geeignetes Modell zur Verfügung. Gerade dieser Nachweis ist aber häufig für Fahrbahnplatten von Brücken massgebend. Unter Ermüdungslasten ist der Querschnitt der Fahrbahnplatte in der Regel gerissen, die Bewehrung fliesst jedoch noch nicht. Im Gegensatz zum Tragwiderstand sind für dieses komplexe, gerissen-elastische Tragverhalten keine plastischen Umlagerungen zulässig. Daher ist es wichtig, ein möglichst realitätsnahes Modell für Stahlbeton zu verwenden, das dieses Tragverhalten abbildet und somit eine zuverlässige Bestimmung der Bewehrungsspannungen ermöglicht.
Bei der Bemessung meiner ersten Brücke als Werkstudent wurde ich direkt mit diesem unbefriedigenden Zustand konfrontiert. Während ich die Nachweise des Tragwiderstands mit fachlicher Unterstützung und dem aus der Vorlesung erlernten Wissen führen konnte, fehlte ein geeignetes Modell, um die Spannungen der Bewehrung für den massgebenden Ermüdungsnachweis zuverlässig berechnen zu können. In diesem Blogbeitrag möchte ich deshalb die bestehenden Unsicherheiten bei der Anwendung des Ermüdungsnachweises für die Bewehrung zusammenfassen und anhand eines Vergleichs verschiedener Modelle zeigen, dass die in der Praxis gängigen Modelle dafür nicht geeignet sind. Im weiteren Verlauf des Blogbeitrags wird erläutert, wie ein Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Strassen (ASTRA) diese Unsicherheiten adressiert und wie damit verbundene zurzeit ungenutzte Reserven zusätzlich ausgeschöpft werden können. Ziel ist es, unnötige Verstärkungsmassnahmen zu vermeiden, Ressourcen zu schonen und damit aus einer planerischen Perspektive einen Beitrag zur Entlastung der Umwelt zu leisten.
Die oben beschriebenen Unsicherheiten für den Ermüdungsnachweis der Bewehrung können in zwei Kategorien zusammengefasst werden und sind in Abbildung 1 illustriert:
(i) Die Bestimmung der Schnittkräfte in der Fahrbahnplatte unter Ermüdungslasten
{nx, ny, nxy, mx, my, mxy, vx, vy}
(ii) Die Berechnung der daraus resultierenden Bewehrungsspannungen
{σsrx,inf, σsrx,sup, σsry,inf, σsry,sup}

(i) Bestimmung der Schnittkräfte unter Ermüdungslasten
Die Schnittkräfte in der Fahrbahnplatte infolge von Ermüdungslasten (siehe Abbildung 1 (i)) werden in der Praxis in der Regel mit linear-elastischen Finite Elemente Analysen (lineare FEA) bestimmt. Solche Berechnungen sind in verbreiteten Programmen wie Cubus oder Axis einfach anzuwenden und benötigen nur kurze Rechenzeiten. Im Gegensatz zu den numerisch aufwendigeren und zeitintensiveren nichtlinearen Finite-Elemente-Analysen (NLFEA) kann die lineare FEA jedoch das Verhalten des gerissen-elastischen Stahlbetonquerschnitts nicht abbilden. Für den Ermüdungsnachweis relevant sind dabei insbesondere die mit der Rissbildung verbundenen Druckmembranspannungszustände. Durch das Reissen des Querschnitts dehnt sich die Fahrbahnplatte bezüglich ihrer Mittelebene aus. Diese Ausdehnung wird durch steifere Bauteile wie beispielsweise Brückenstege eingeschränkt (siehe Abbildung 2 (a)), wodurch der zuvor erwähnte Druckmembranspannungszustand in der Fahrbahnplatte entsteht (siehe Abbildung 2 (b)). Wie der Name andeutet, erzeugt dieser Zustand Druckkräfte in der Ebene der Fahrbahnplatte, die die Spannungen in der Bewehrung reduzieren. Je stärker diese Ausdehnung behindert wird (grössere Federsteifigkeiten k in Abbildung 2 (b)), desto ausgeprägter ist die Spannungsreduktion in der Bewehrung. Bereits eine leicht eingeschränkte Ausdehnung kann zu einer deutlichen Verringerung der Bewehrungsspannungen führen. Um diese Reserven ausschöpfen zu können, muss für die Bestimmung der Schnittkräfte daher eine NLFEA verwendet werden, die diese Membranspannungszustände zuverlässig abbilden kann.

(ii) Ermittlung der resultierenden Bewehrungsspannungen
Selbst wenn die Schnittkräfte aus einer linearen FEA übernommen werden, gibt es kein praxistaugliches und experimentell validiertes Verfahren, um die resultierenden Spannungen in der Bewehrung zu ermitteln (siehe Abbildung 1 (ii)). In der Praxis werden häufig die Normalmomenten-Fliessbedingung (siehe Gleichungen in Abbildung 3 (a)) oder das Sandwich-Modell (siehe Abbildung 3 (b)) verwendet, um aus den linear-elastisch ermittelten Schnittkräften die Spannungen in der Bewehrung zu ermitteln. Diese Modelle nehmen jedoch plastische Umlagerungen an und sind somit nicht zulässig für die Ermittlung der Bewehrungsspannungen durch Ermüdungslasten.

In der Forschung gibt es durchaus Modelle, die auch das für die Ermüdung relevante gerissen-elastische Tragverhalten von Stahlbeton abbilden können. In der Regel werden dazu sogenannte Schichtenmodelle (beispielsweise CMM-Usermat in Abbildung 3 (c)) verwendet. Die Grundidee ist dabei ähnlich wie bei Spannungsberechnungen am Balken: Es wird angenommen, dass die jeweiligen Dehnungen linear über die Höhe des Querschnitts variieren. Das Element wird in mehrere Schichten unterteilt, die nur über die vorhergehende Annahme miteinander verknüpft werden. Unter der weiteren Annahme, dass jede Schicht einen ebenen Spannungszustand aufweist, können ausgehend von den Dehnungen jeder Schicht die zugehörigen Spannungszustände jeder Schicht ermittelt werden. Mittels Integration über die Schichten können dann die resultierenden Schnittgrössen ermittelt werden. Das an der Professur verfügbare CMM-Usermat [3], das auf dem mechanisch konsistenten Cracked Membrane Model (CMM) [4] basiert, ist ein solches Schichtenmodell. Da das Modell die Zugversteifung über das Zuggurtmodell berücksichtigt, sollte es die Ausdehnung der Mittelebene bei Rissbildung realitätsnah erfassen und damit auch die Druckmembrankräfte des Membranspannungszustands zuverlässig abbilden können. Das CMM-Usermat wurde in die kommerzielle Software ANSYS implementiert und ist bereits ausführlich mit Experimenten hinsichtlich des globalen Last-Verformungsverhaltens validiert worden. Für eine Überprüfung der resultierenden Bewehrungsspannungen und der zuvor beschriebenen grundlegenden Annahmen des Schichtenmodells stehen jedoch nicht genügend experimentelle Daten zur Verfügung.
In einem früheren Blogbeitrag hat Vera Balmer bereits die Entwicklung eines hybriden Machine-Learning-FE-Ansatzes vorgestellt, der ebenfalls auf diesem Schichtenmodell basiert. Zudem haben Balmer et al. [5] mit dem Schichtenmodell (CMM-Usermat) gezeigt, wie schon eine gering eingeschränkte Ausdehnung der Mittelebene κ die Bewehrungsspannungen erheblich reduziert (siehe Abbildung 4). Zusätzlich haben sie die mit dem CMM-Usermat ermittelten Bewehrungsspannungen mit denen verglichen, die sich aus der Normalmomenten-Fliessbedingung (NMYC) ergeben. Der Vergleich zeigt, dass die Normalmomenten-Fliessbedingung über weite Strecken von κ zu konservativ ist. Für kleine Werte von κ können die damit ermittelten Bewehrungsspannungen aber auch auf der unsicheren Seite liegen, wie in Abbildung 4 anhand von ρ = 1 dargestellt.

ASTRA-Forschungsprojekt zur Bestimmung der Bewehrungsspannungen unter Ermüdungslasten
Das ASTRA-Forschungsprojekt setzt bei beiden zuvor beschriebenen Unsicherheiten an: (i) Bestimmung der Schnittkräfte unter Ermüdungslasten und (ii) Ermittlung der resultierenden Bewehrungsspannungen. Zunächst sollen acht grossmassstäbliche Scheibenelementversuche im Large Universal Shell Element Tester (LUSET) durchgeführt werden, um mit geeigneten Lastkombinationen die grundlegenden Ansätze des Schichtenmodells und die daraus resultierenden Bewehrungsspannungen zu validieren. Das validierte Modell soll danach praktizierenden Ingenieur:innen zur Verfügung gestellt werden, damit sie aus linear-elastisch ermittelten Schnittkräften die resultierenden Bewehrungsspannungen zuverlässig berechnen können.
Im nächsten Schritt wird ein stufenweises Verfahren für die Ermüdungsbemessung der Bewehrung erarbeitet das der Praxis ebenfalls schlussendlich zur Verfügung gestellt wird. Ziel des Verfahrens ist es, die Reserven aus Druckmembranspannungszuständen (Abbildung 2) gezielt zu berücksichtigen. Dazu werden auf Basis des validierten Schichtenmodells mittels NLFEA die Schnittkräfte inklusive der vorteilhaften Druckmembranspannungszustände ermittelt. Die daraus resultierenden Bewehrungsspannungen werden mit denjenigen verglichen, die aus den linear-elastisch bestimmten Schnittkräften unter Verwendung des Schichtenmodells bestimmt wurden. Auf dieser Grundlage kann dann abgeschätzt werden, unter welchen Bedingungen die Reserven aus Druckmembranspannungszuständen tatsächlich genutzt werden können.
Zusätzlich zu den acht vom ASTRA-Forschungsprojekt finanzierten Versuchen wurden im vergangenen Jahr im Rahmen eines weiteren Projekts bereits zwei LUSET-Versuche durchgeführt. Diese Tests umfassten eine allgemeine Belastung mit Membrandruck- und Membranschubkräften sowie Querbiegung und Torsion. Bevor daraus erste Schlüsse für das Schichtenmodell und die folgenden LUSET-Versuche gezogen werden können, müssen die experimentellen Daten jedoch noch vollständig ausgewertet werden.
Die Ergebnisse der beiden zusätzlichen Tests werden hier zu einem späteren Zeitpunkt präsentiert. In den kommenden Jahren werden zudem die Resultate der weiteren LUSET-Versuche zur Erforschung des Tragverhaltens von Stahlbetonschalen im gerissen-elastischen Zustand und zur Ermittlung der Bewehrungsspannungen für den Ermüdungsnachweis erarbeitet und in späteren Blogposts oder Studien veröffentlicht.
Yannick Kummer
Referenzen
- K. Thoma, A. Kenel, G. Borkowski, “Ermüdung von vorwiegend auf Biegung beanspruchter Fahrbahnplatten”, Forschungsprojekt AGB 2010/001.
- W. Kaufmann, Lecture Notes Advanced Structural Concrete 2025, Chapter 5.2: Slabs–Yield conditions.
- K. Thoma, “Finite element analysis of experimentally tested RC and PC beams using the cracked membrane model”, Engineering Structures 167 (2018) 592-607.
- W. Kaufmann and P. Marti, ‘Structural Concrete: Cracked Membrane Model’, Journal of Structural Engineering, vol. 124, no. 12, pp. 1467–1475, 1998, doi: 10.1061/(ASCE)0733-9445(1998)124:12(1467).
- V. Balmer, K. Thoma, W. Kaufmann, “Design of Concrete Shells and Plates: A Solved Problem?”, IASS 2024, https://doi.org/10.3929/ethz-b-000698486.